Uni-Tübingen

Teilprojekt A im Zusatzverbund: Die Veränderung der lebensweltlichen Ordnung indischer Arbeitnehmer im Kontext einer bi-nationalen Firmenfusion

Abstract

Das geplante Teilprojekt untersucht die Konflikte zwischen Mitarbeitern und Managern in einem Werk eines deutsch-indischen Motorenteileherstellers in Pune, Indien, die nach der Firmenfusion entstanden und zu Protesten und Streiks führten. Auf der Grundlage ethnographischer Methoden soll untersucht werden, welche Ordnungen von den unterschiedlichen Gruppen wann und wie bedroht gesehen wurden und wie die verschiedenen Statusgruppen (Arbeiter, Management, Firmenleitung) mit der Veränderung der jeweilig als normal/eigen betrachteten Ordnungen umgehen und vor allem, welche Art von Emotionen damit einhergehen. Das Projekt fragt weiterhin, welche Rolle diese Emotionen in der Kommunikation der Bedrohungswahrnehmung nach innen und nach außen spielen und welchen Einfluss der Konflikt auf die Schaffung neuer Gruppengrenzen und Identität stiftenden Fremd- und Selbstzuschreibungen hat, vor allem vor dem Hintergrund medial hochgekochter Narrative, die den Verlust der indischen Tradition und Werte durch westliche Einflüsse als Bedrohung konstituieren.

Projektteam

Projektleitung:
Prof. Dr. Gabriele Alex

Mitarbeiter:

Maximilian Priester-Lasch, M.A.

Fachgebiete und Arbeitsrichtung

Ethnologie

Projektbeschreibung

Forschungsstand und eigene Vorarbeiten

Bereits in den 1960er Jahren stellte sich die Manchester School um Max Gluckman der Aufgabe, Industrialisierungsprozesse in nicht westlichen Ländern und damit einhergehende soziale Veränderungen mit ethnographischen Methoden in Industriebetrieben zu untersuchen. Im Mittelpunkt standen die Konflikte, die im Kontext der postkolonialen neuen politischen und sozialen Ordnungen zwischen verschiedenen Ebenen der Arbeiterschaft und der Managementebene entstanden. Insbesondere in der Art und Weise, wie diese Arbeiten ethnografische Mikrostudien mit größeren sozialen und politischen Veränderungsprozessen verbinden und die Verbindung zwischen Struktur und Agency untersuchen, erweisen sie sich als grundlegend für die Ethnologie industrieller Arbeit.

Ethnologische Studien, die sich mit Industrialisierungsprozessen in Indien und deren Auswirkungen auf die sozio-kulturelle Ordnung beschäftigen, thematisieren die sozialen Umbrüche und Risse, die entstehen, wenn aus Bauern plötzlich ‚bluecollar’ Arbeiter werden (Holmstrom 1984), den Wechsel vom traditionellen jajmani-System (welches die Arbeits- und Austauschbeziehungen zwischen verschiedenen Kastengruppen einer Region regelt) zu einer Organisation der Arbeitsbeziehungen, welche sich an Produktionsmaximierung, Profit und Kontraktualität organisiert und als Resultat neue Wohn- und Umgangsformen von den Arbeitnehmern fordert (Strümpell 2006); und wie die Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen von Industriearbeitern unter bestimmten Bedingungen zu Krisen und Selbsttötungsepidemien führen können (Parry 2012).

Bisher gibt es nur wenige Studien, die sich mit der Fusion indischer Unternehmen mit Unternehmen aus anderen Ländern beschäftigen. Hervorzuheben sind hier die Arbeiten von Parry und Strümpell (2008) und von Sperling (1969), die thematisieren, wie in den 1950er Jahren die Errichtung von großen bi-national geführten Stahlwerken (in Bhilai und Rourkela), die als nationale Projekte der indischen Modernisierung und Egalisierungspolitik geplant und gefeiert wurden, anders als geplant zum Austragungsort von gewalttätigen ethnischen und kommunalen Konflikten wurden, die z. T auf interkulturelle Konflikte in den Betrieben zurückgeführt wurden. Das geplante Projekt greift die Ergebnisse aus diesen Studien auf, geht aber über sie hinaus, indem es eine ‚dichte Beschreibung’ der konkreten Konflikte und der damit einhergehenden Bedrohungswahrnehmungen im Umfeld der deutsch-indischen Fusion liefert.

Die Projektleiterin hat regionale und theoretische Vorarbeiten vorzuweisen, sie hat Prozesse des sozialen Wandels (in Bezug auf z.B. Kastenhierarchie, Gender) in Indien untersucht (Alex 2010) und weiterhin Expertise in der Anthropology of Crisis (Krause, Alex und Parkin i. E. 2013). Der vorgesehene Mitarbeiter, Maximilian Priester-Lasch, führte im Herbst 2011 eine dreimonatige Pilotstudie im Auftrag der deutschen Firmenleitung im deutsch-indischen Werk in Pune durch.

Ziele, Vorhaben, Arbeitsplan

Die Stadt Pune ist mit 3,1 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Stadt des zentralindischen Bundesstaates Maharashtra. Sie ist ein Zentrum der Automobilindustrie, des Maschinenbaus und der Softwareindustrie. Aufgrund der Bedeutung für die Automobilindustrie haben sich hier zahlreiche internationale Unternehmen (z.B. VW, Daimler, MAN) und ihre Zulieferer (Bosch, SKF etc.) angesiedelt. Hierdurch entsteht eine enge Zusammenarbeit zwischen indischen und internationalen Firmen, die wiederum Einfluss auf das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben in Stadt und Umland hat.

Im Jahre 2010 fand die Fusion zweier deutscher Automobilzulieferer mit einer Abteilung eines indischen Motorenherstellers in Pune statt. Die Fusion ging mit der Verlegung des Werks in ein 50 km entferntes Industriegebiet und mit grundlegenden strukturellen Veränderungen im Werk einher. Tradierte soziale Arbeitsbeziehungen, die durch Hierarchien, Patronage und Loyalität gekennzeichnet waren, wurden aufgebrochen. Die durch die Fusion erzeugten Veränderungen waren für die Arbeitnehmer sowohl räumlicher als auch sozialer Art. So entstand für die Belegschaft, die hauptsächlich in Pune ansässig ist, ein Arbeitsweg von täglich drei bis vier Stunden, was die sozialen Beziehungen zur Familie zeitlich stark reduzierte. Die Firmenübernahme bedeutet auch, dass die Angestellten von einem mit hohem Prestige versehenen Unternehmen zu einem in Indien wenig bekannten Unternehmen wechselten. Die oftmals langjährige und emotional stark besetzte Zugehörigkeit zum vormals indischen Arbeitgeber, die sich auch über die Beziehung zum Patron und die damit einhergehende Identifikation und Selbstbeschreibung der Arbeitnehmer ausdrückt, wurde aufgebrochen, ohne dass eine neue Identitätsstruktur geboten wurde. Erste Ergebnisse aus der Pilotstudie zeigen, dass die indischen Mitarbeiter sich von der deutschen Firmenleitung unzureichend über Abläufe und Erwartungen informiert fühlten. Es wurde keine offizielle Vision und Mission für die neuen Abteilungen formuliert und es war nicht klar, welche Ansprüche und Erwartungen die Arbeitnehmer an die Beziehungen mit den Arbeitgebern stellen konnten. Für die indischen Angestellten wurden die alten Ordnungsstrukturen, die das Werk zusammenhielten, solange es noch indisch war, aufgebrochen, aber es war nicht ersichtlich, wie die neue Ordnung aussehen würde und welchen Platz die einzelnen Arbeitnehmer dort einnehmen würden. Die Zusammenlegung einzelner Abteilungen der Firmenverwaltung führte zu Spannungen zwischen Managern der verschiedenen Unternehmen, wodurch das bereits bestehende Misstrauen zwischen den indischen und deutschen Managern der Führungsebene verstärkt wurde. Davon unabhängig gab es, aufgrund des täglichen Arbeitswegs und der dafür zu gering erachteten gezahlten Entschädigung, einen Hungerstreik der Arbeiter und weiterhin ‚stille’ Proteste der Angestellten, die von der deutschen Firmenleitung allerdings nicht immer als Protest entschlüsselt wurden. In der Interaktion zwischen den indischen Arbeitnehmern und der deutsch-indischen Führungsebene wurde die Aushandlung von Ordnungsmodellen auf zwei Ebenen wahrgenommen: zum einen in Bezug auf die Organisationsstrukturen, also betreffend Arbeits- und Personalbeziehungen (Gehälter, Verträge, Beförderungen), aber auch der Produktionsabläufe. Zum anderen wurden unterschiedliche ‚kulturelle’ Ordnungen thematisiert, z.B. die kulturelle Differenz in Bezug auf den Führungsstil. Die deutschen Unternehmen sahen sich selbst als an eine proaktive, selbstständige Arbeitsweise mit längeren Perioden ohne Feedback gewöhnt, wohingegen die indischen Angestellten als an einen elterlichen Führungsstil (parental leadership) mit ausgeprägter Supervision und häufigem Feedback konzeptualisiert wurden. Die indischen Arbeitnehmer beschrieben ihre Unternehmensphilosophie gerahmt durch die von Ghandhi geprägte Khadi-Bewegung (diese propagiert eine rein indische Ökonomie) und fürchteten, dass die Übernahme zu einer ‚hire and fire’ Unternehmenskultur führen würde. Dies führte zur Verunsicherung auf allen Seiten. Hier wurde der Ethnologe Maximilian Priester-Lasch eingeschaltet und von der Führungsebene (die fürchtete, die Angestellten könnten kündigen) und den Angestellten (die Angst hatten, ihre Arbeitsplätze zu verlieren) darum gebeten, als Mediator zu agieren.

Das geplante Projekt hat sich die Aufgabe gestellt, die in dieser Konfliktsituation entstandenen emischen Konzepte von Bedrohung und Ordnung zu untersuchen und weiterhin die jeweiligen (kulturell und anders differenzierten, z.B. Gender, Alter, Status, Kaste, beruflicher Status) Umgangsweisen mit diesen Bedrohungswahrnehmungen differenziert ethnographisch herauszuarbeiten.

Einen weiteren Schwerpunkt der Forschung bilden die durch die Wahrnehmung der Ordnungsbedrohung erzeugten Emotionen. Diese sind einerseits eine Reaktion auf die Antizipation einer negativen Zukunft; andererseits ist die Darstellung von Emotionen aber auch ein wichtiges Element in der Verarbeitung, Artikulation und Mitteilung von Bedrohungswahrnehmungen. Sie schafft Bedeutung und spielt somit in der Aushandlung von Ordnungsmodellen eine wichtige Rolle, vor allem wenn die verbale Kommunikation durch Sprach- oder Kulturbarrieren schwierig ist. So sind das Zeigen von Wut, Angst, Trauer, Trotz, Verletztheit etc. ein essentieller Teil der Konfliktkommunikation zwischen den unterschiedlichen Gruppen im deutsch-indischen Werk. Einerseits sind die Reaktionen kulturell geformt, andererseits unterscheidet sich das, was als adäquate oder auch erwartete emotionale Reaktion nach außen getragen werden sollte, kulturspezifisch (aber auch in Bezug auf Gender u.a.). Emotionen werden also durch kulturspezifische Codes kommuniziert und auch kulturspezifisch entschlüsselt und bewertet, sie rahmen die Wahrnehmung und auch die Positionierung und die Urteilskraft (judgement) von Individuen (Rosaldo 1984). Andererseits sind sie ein Medium, mit dem die Bedrohungswahrnehmung kommuniziert und sozial geteilt werden kann. Eine Frage, die sich hier stellt, ist, welche Rolle die Emotionen in der Beilegung der Konflikte und der Schaffung einer neuen, sozial geteilten Ordnung spielen. Hier finden sich Anschlussmöglichkeiten an die Projekte C–Mende, E–Sassenberg und F–Scheer.

Weiterhin soll gefragt werden, in welcher Beziehung diese am ‚eigenen Körper und Leben’ erfahrene Veränderung und Bedrohung zu anderen Bedrohungsnarrativen stehen, die durch den Verlust der durch den kulturellen Hintergrund der Akteure bedingten Werte, durch Modernisierung und durch die Öffnung gegenüber ‚dem Westen’ gekennzeichnet sind. Eine besondere Rolle kommt hier der medialen Berichterstattung über ‚den Westen’ zu, in der die Bedrohung der traditionellen indischen Ordnung durch fremdkulturelle Einflüsse in unterschiedlichster Form thematisiert wird. Hier finden sich Anschlussmöglichkeiten an die Projekte B–Hardenberg und D–Nieswand.

Der Konflikt führte zu neuen Gruppengrenzen und Gruppenzuschreibungen und damit zu Homogenisierungs- und Pluralisierungsprozessen, zum Beispiel durch die Schaffung von neuen Arbeitshierarchien. Welche Rolle spielen diese Fremd- und Selbstzuschreibungen (indisch, deutsch, Manager, blue-collar-Arbeiter) für die Selbstwahrnehmung und die Schaffung von neuen Gruppen und Identitäten, die dann letztendlich auch wichtig sind für die sozial geteilten Konzepte einer Ordnung? Die Untersuchung dieser Prozesse schließt an die Projekte B–Hardenberg, C–Mende, D–Nieswand, E–Sassenberg und F–Scheer an.

Die Firmenfusion führte auch zu räumlichen Veränderungen, z.B. zu neuen Werkssiedlungen, die eine räumliche Veränderung von Arbeits- und Wohnumfeld nach sich zogen. In welcher Beziehung stehen die veränderten räumlichen Ordnungen mit den anderen oben beschriebenen Ordnungen? Hier bestehen Anschlussmöglichkeiten an die Projekte B–Hardenberg, D–Nieswand und F–Scheer.

Methodisch sind die klassischen Forschungsmethoden der Ethnologie (teilnehmende Beobachtung, Interviewtechniken, Analyse von Texten und medialen Materialien, biographische Forschung) vorgesehen. Weiterhin soll die aus der Manchester School hervorgegangene Extended Case Method angewendet werden, die mit der Fokussierung auf Fallstudien von Konflikten sehr gut für das geplante Forschungsprojekt geeignet ist.

Projektbezogene Vorträge und Publikationen

Alex, Gabriele

Priester-Lasch, Maximilian