Teilprojekt E im Zusatzverbund: Die Effekte von Normveränderungen, die Emotionen von Gruppenmitgliedern und die Beziehung zwischen Veränderungsbefürwortern und -gegnern
Abstract
Normen sozialer Gruppen legen Standards und Verhaltensregeln und damit eine Ordnung fest. Durch zentrale Gruppenmitglieder herbeigeführte Schlüsselereignisse, die als (Initiierung einer) Normveränderung wahrgenommen werden, können einen erheblichen Einfluss auf den Zusammenhalt der Gruppe haben. Identifizierte Gruppenmitglieder verlassen die Gruppe als Reaktion auf solche Normveränderungen, die sie als zentrale Merkmale der Gruppe in Frage stellend wahrnehmen (sogenannte Identitätssubversion). Im Zentrum des hier beantragten Forschungsprojekts stehen die emotionalen Reaktionen auf Normveränderungen (vor allem Ekel und Ärger) und die daraus resultierenden Handlungskonsequenzen. Dabei werden nicht nur Gegner, sondern auch Befürworter der Normveränderung berücksichtigt und die Homogenisierung beziehungsweise Pluralisierung der fraglichen Gruppe anhand der Beziehung zwischen beiden Gruppen untersucht.
Projektteam
Projektleitung:
Prof. Dr. Kai Sassenberg
Fachgebiete und Arbeitsrichtung
Sozialpsychologie
Projektbeschreibung
Forschungsstand und eigene Vorarbeiten
Normen (d.h. etablierte Standards und Verhaltensregeln) sind konstituierende Elemente der Ordnung in sozialen Gruppen von aufgabenbasierten Teams bis hin zu Nationen (Turner u.a. 1994). Bei identifizierten Gruppenmitgliedern wirken Normen ähnlich wie Ziele in der Selbstregulation (Sassenberg und Woltin 2009). Abweichungen von Normen setzen ähnlich starke motivationale Ressourcen wie intrinsische Motivation frei (Sassenberg u.a. 2011). Wenn eines oder mehrere zentrale Mitglieder (z.B. Führende) einer Gruppe eine Normveränderung initiieren, kann dies als Bedrohung der Ordnung wahrgenommen werden und im Extremfall ein Schisma (d.h. die Abspaltung von Teilen der Gruppe) auslösen. Für Schismen konnte gezeigt werden, dass Gruppenmitglieder durch das Schlüsselereignis einer Normveränderung zur Abspaltung motiviert sind, wenn sie den Eindruck haben, dass diese Normveränderung die Gruppenidentität und damit zentrale Elemente des Selbstkonzepts von identifizierten Gruppenmitgliedern in Frage stellt (sog. Identitätssubversion, zus. Sani 2008). Die emotionale Dynamik, die aus Normveränderungen resultiert, wurde bisher jedoch nur unzureichend untersucht (Sani 2008). Auch der Vergleich der Perspektiven von Befürwortern und Gegnern einer essenziellen Normveränderung wurde bisher kaum angestellt. Der vorgesehene Projektleiter ist ausgewiesen im Bereich der sozialpsychologischen Gruppenforschung (z.B. Sassenberg u.a. 2011; Sassenberg und Woltin 2009).
Ziele, Vorhaben, Arbeitsplan
Ziel dieses Projektes ist es, einen Beitrag zur Adressierung beider Defizite zu leisten und die Effekte von normverändernden Schlüsselereignissen auf Emotionen und resultierende Handlungen der Beteiligten zu untersuchen. Hier bestehen Anschlussmöglichkeiten zu den Projekten A–Alex, C–Mende und F–Scheer. Dabei werden sowohl Befürworter als auch Gegner der Normveränderung einbezogen. Homogenisierung und Pluralisierung werden anhand der Beziehung zwischen beiden Teilgruppen untersucht. Hier bestehen Anschlussmöglichkeiten an die Projekte A–Alex, B–Hardenberg, C–Mende, D–Nieswand und F–Scheer.
Als theoretische Basis für die folgende Argumentation dienen Theorien zu moralischen Emotionen (z.B. Rozin u.a. 1999) und Appraisal-Theorien der Emotionen (z. B. Frijda u.a. 1989), wie sie dem aktuellen Stand der Forschung zu Emotionen in der Psychologie entsprechen. Eine Normveränderung kann in Abhängigkeit von der Wahrnehmung (den sogenannten Appraisals) der Betroffenen unterschiedliche Emotionen auslösen. Ärger und Ekel sind auf der Basis der herangezogenen Theorien die beiden wahrscheinlichsten Emotionen. Sie werden deshalb im Mittelpunkt dieses Projektes stehen:
Ärger lösen Ereignisse aus, die die Rechte und Freiheiten in Frage stellen und die absichtlich Zustände herbeiführen, die im Konflikt mit den Zielen einer betroffenen Person stehen. Als Reaktion auf Ärger suchen Personen die verbale oder physische Auseinandersetzung mit der Quelle des Ärgers. Dies macht einerseits die Polarisierung zwischen den Unterstützern und Gegnern der Normveränderung wahrscheinlich, andererseits fördert es eine aktive Auseinandersetzung mit den Positionen der jeweils anderen Gruppe (hier gibt es einen Bezug zum Projekt F–Scheer).
Ekel entsteht, wenn eine Normveränderung durch eine höhere Instanz bestimmte Regeln (d.h. göttliche Gebote, Glaubenssätze oder Naturgesetze) in Frage stellt oder die Reinheit oder Integrität eines oder mehrerer Lebewesen verletzt. Als Verhaltensreaktion auf Ekel wird versucht, die Ursache des Ekels zu beseitigen und, wenn dies nicht gelingt, sich von der Ursache zu entfernen. Erfolgt also eine Ekel auslösende Normveränderung, werden die Personen, die die Norm erhalten wollen, versuchen, diejenigen, die die Norm verändern, aus der Gruppe zu entfernen oder sie zu isolieren. Wenn dies nicht gelingt, werden sie sich isolieren oder von der gemeinsamen Gruppe abspalten. Entfernen und Isolieren kann hier sowohl räumlich als auch psychologisch bzw. sozial verstanden werden. Verglichen mit Ärger sollte Ekel zu einer stärkeren Polarisierung führen, die der Kommunikation zwischen beiden Parteien im Wege steht. Ärger hingegen führt zu einer Auseinandersetzung, die letzten Endes auch konstruktiv verlaufen kann und nur im Fall eines negativen Verlaufs zu Isolation und Abspaltung führt.
Ärger und Ekel können auch bei den Befürwortern der Normveränderung entstehen. Dies lässt sich am Beispiel des Urteils zu religiös motivierten Beschneidungen illustrieren. Das Gerichtsurteil und die Auseinandersetzung des Ethikrates mit dem Thema Beschneidung haben als Schlüsselereignisse die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Personen, die nicht Mitglieder von durch das Beschneidungsurteil getroffenen Religionsgemeinschaften sind, können ein Beschneidungsverbot unterstützen, weil sie Beschneidung als intentionales Handeln gegen die Norm (den Wert) der individuellen Selbstbestimmung ansehen. In diesem Falle sollten Beschneidungen Ärger auslösen. Alternativ ist auch denkbar, dass die Beschneidung (aufgrund der Verletzung eines menschlichen Körpers) Ekel auslöst. Im Fall des Ärgers sollten ein Diskurs und ein Kompromiss möglich sein, im Fall des Ekels sollte das Verbot die einzige denkbare Alternative sein.
Für Juden und Moslems stellt das Urteil eine Bedrohung ihrer religiösen Ordnung dar. Da eine gottgegebene Norm in Frage gestellt wird, kann das Urteil Ekel auslösen. In Abhängigkeit davon, ob es Juden und Moslems möglich erscheint, die entsprechenden Richter zu isolieren (durch andere Urteile oder eine politische Entscheidung), werden sie dies versuchen oder – falls nicht – sich in Deutschland isolieren (aus der Gesellschaft aussteigen) oder das Land verlassen. Gleichzeitig kann das Urteil aber auch Ärger auslösen, da Juden und Moslems es als absichtliche Einschränkung ihrer Religionsfreiheit wahrnehmen können. In diesem Fall ist zu erwarten, dass sie eine Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft oder dem Rechtssystem anstreben.
Die Studien dieses Projektes werden die emotionalen Reaktionen auf Normveränderungen, als spezifische Form der Bedrohung einer Ordnung, anhand mehrerer normverändernder Schlüsselereignisse untersuchen. Da aus psychologischer Perspektive Emotionen akute affektive Reaktionen beschreiben, werden die Untersuchungen alle mit Bezug zu zum Untersuchungszeitpunkt aktuellen Ereignissen durchgeführt. Dementsprechend können diese Ereignisse (mit Ausnahme von Studie 1) hier noch nicht genannt werden. Die Ereignisse werden aber, soweit möglich, so gewählt, dass sie eine maximale Nähe zu den anderen Projekten des Zusatzverbundes aufweisen. Es sind folgende drei Schritte geplant.
(1) In einer korrelativen Feldstudie werden via Fragebogen die Beziehungen zwischen Appraisals, Emotionen und Handlungstendenzen, wie sie aufgrund bestehender Theorien angenommen werden und oben beschrieben sind, am Fall von Stuttgart 21 untersucht – einem Schlüsselereignis, das auch in einem anderen Projekt des Zusatzverbundes untersucht wird (vgl. Projekt F–Scheer). Hierbei ist geplant, sowohl die Unterstützer als auch die Gegner der Normveränderung zu untersuchen.
(2) In drei Laborexperimenten werden die kausalen Effekte von Appraisals auf (I) Emotionen und Handlungstendenzen, (II) Emotionen und die Verarbeitung von Informationen zur Position der jeweils anderen Seite sowie (III) Emotionen und Kompromissbereitschaft (d.h. Polarisierung und Homogenisierung) untersucht. In diesen Studien werden vermeintliche Pläne politischer Akteure so präsentiert, dass sie die für Ärger und Ekel relevanten Appraisals auslösen. Die Materialien müssen intensiv auf Glaubwürdigkeit und die Entstehung der intendierten Appraisals vorgetestet werden.
(3) Zur Replikation der Befunde aus den Experimenten im Feld wird eine Fragebogenstudie an einem anderen normverändernden Schlüsselereignis durchgeführt. Diese Studie wird ein längsschnittliches Design mit zwei Messzeitpunkten in 8 - 10 Wochen Abstand haben.