Zugleich verwandelt und überführt der Tänzer eine lange Darstellungstradition in eine innovative ästhetische Form, die gleichermaßen als Akt wie Artefakt fungiert und nun, als moderne Zelebrierung der ganz eigenen Sensualität und Sinnlichkeit des Tanzes, in einem zeitgenössischen Diskurs- und Erlebnisraum wirksam wird. Dies gelingt, indem in einer extremen Spannung scheinbar Gegensätzliches in Relation gesetzt wird: Morbidität und Brillanz, Gewaltakt und Artifizialität, Versehrtheit und Vollkommenheit formen ein Drittes, ein Neues. Dabei vollzieht sich im Medium des Tanzes eine durch die Spannungen getragene Transformation, als deren Metapher die tänzerisch umgesetzte (Selbst-)Enthäutung gelten kann: die Geschichte einer Überwindung des Körpers durch den Körper, der Hervorbringung einer spezifischen Körperlichkeit durch eine andere, der Entwicklung einer eigenen ästhetischen Form aus dem kulturellen Gedächtnis.
Doch selbst in jenen wenigen Momenten, in denen die Möglichkeit von Leichtigkeit wahrnehmbar wird, bleibt zweifellos die Rückbindung an den Körper, an die Arbeit am Körper, an den anfänglichen Gewaltakt der Enthäutung sichtbar bestehen. Die mehr anzitierte, denn erreichte Leichtigkeit im Tanz legt damit ihre Bedingung offen. Sie lässt diese nicht vergessen, zeigt sich uns daher als prekär, zerstörbar, kaum realisierbar. Die Gewaltsamkeit der Enthäutung ist gleichsam nicht abzuschütteln. Nicht im Hier und Jetzt. Nicht in unserer Gegenwart.
Und damit ist aus dem Écorché als Reflexionsfigur einer frühen künstlerischen Praxis eine neue Reflexionsfigur geworden, eine Reflexionsfigur, die in einem Grenzgang zwischen Tradition und Irritation nicht nur die Darstellungspotentiale heutigen Tanzes befragt, sondern kritisch auch überkommene Schönheitsvorstellungen, aktuelle Körperbilder, vor allem aber die Grenzen und Möglichkeiten von Kunst auch und gerade angesichts von Orten des Unrechts sowie von Zeiten der Zerstörung. In diesem Sinne ist die Aufführung gleichermaßen als Prozess wie Ergebnis einer tiefgreifenden Auseinandersetzung nicht nur mit den vormodernen Écorchés, sondern allem voran mit der bewegten charismatischen Kunstform selbst und ihrer gesellschaftlichen Stellung aufzufassen: eine Anatomie des Tanzes.