Uni-Tübingen

Ein Haus für alle Fälle

Das LebensPhasenHaus in Tübingen inspiriert seit zehn Jahren zu einem langen und autonomen Leben in den eigenen vier Wänden.

Hilde Ehrle drückt auf einen Lichtschalter. Auf dem Boden erscheint eine grüne LED-Lichtleiste, die sich quer durch eine Wohnung zieht: vom Schlafzimmer mit dem Pflegebett durch das Wohnzimmer über die Küche mit den höhenverstellbaren Arbeitsflächen bis ins barrierefreie Badezimmer. „Grünes Licht eignet sich besonders zur Orientierung bei Nacht, da das Gehirn nicht auf dieses Lichtspektrum reagiert“, erklärt Hilde einem älteren Ehepaar, das ihr aufmerksam zuhört. Dann geht sie in ihren hellen Turnschuhen entlang der grünen Linie von Raum zu Raum, das Ehepaar hinterher.

Seit über zehn Jahren berät Hilde Ehrle ehrenamtlich Interessierte im LebensPhasenHaus, einem zwei- stöckigen Bau am Rande Tübingens. Forschende der Universität erproben hier gemeinsam mit den Gästen, dem Kreisseniorenrat, lokalen Handwerksbetrieben sowie mittelständischen Unternehmen aus der Medizintechnik, Pharmazie und Elektroindustrie Ideen für ein selbstbestimmtes Leben im Alter oder für körperlich oder kognitiv eingeschränkte Personen.

Seit 2015 öffnet das LebensPhasenHaus jeden Freitag seine Türen. Alleine in den letzten fünf Jahren kamen etwa 3.000 Interessierte und Pflegekräfte.

Auch das ältere Paar will wissen, wie ihr Leben aussehen kann, wenn sie nicht mehr so fit sein werden. Sollten sie zum Beispiel ihre Wohnung umbauen, wenn der Partner oder die Partnerin auf einen Rollstuhl angewiesen sein sollte? In der Küche lassen sie per Knopfdruck einzelne Module und die Arbeitsfläche auf- und abfahren. Auch Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer könnten hier kochen. Im Hintergrund ertönt ein Gluckern, als füllte jemand ein Glas ein: die automatische Erinnerung aus versteckten Lautsprechern an ältere Bewohnerinnen und Bewohner, genug zu trinken.

Hilde Ehrle zieht eine Schublade mit allerlei Geräten auf, die sie bei einem lokalen Einzelhandelsgeschäft mit Senior:innen-Bedarf gekauft und zu Demonstrationszwecken ausgelegt hat: einen elektrischen Dosenöffner, eine auslaufsichere Schnabeltasse, einen Schlüssel-Finder, eine Griff-Hilfe für Stifte, eine verlängerte Schere und verstärktes Besteck, eine Pillendose mit Erinnerungsfunktion, eine Schlüsselverlängerung. „Es leuchtet einem als Gesundem gar nicht ein, was alles schwierig werden kann“, erklärt sie.


Es leuchtet einem Gesunden gar nicht ein, was alles schwierig werden kann.


Zu den Dingen des täglichen Bedarfs gehört auch eine altersgerechte Beleuchtung im LebensPhasenHaus, die in Kooperation mit dem Geriatrischen Zentrum und der Augenklinik der Universität Tübingen für stationäre Einrichtungen entwickelt wurde. Mit ihr soll das Problem der sogenannten Tag-Nacht-Umkehr bei älteren Menschen gelöst werden: Weil es in der dunklen Jahreszeit nicht richtig hell wird, schüttet das menschliche Gehirn vermehrt Melatonin aus – die Bewohnerinnen und Bewohner dämmern dann tagsüber vor sich hin und werden abends nicht ausreichend müde, um einen erholsamen Schlaf zu haben. Diese Nachtaktivität schränkt nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen ein, sondern stellt auch den Betrieb vor Probleme, da die Nachtschichten personell weniger besetzt sind. Die Lösung: eine sogenannte circadiane Beleuchtung, also eine Beleuchtung, bei der die Lichtfarbe analog zum Tageslicht wechselt. Der Tag beginnt mit blauem Licht, das dann am Nachmittag automatisch in ein warmweißes Licht übergeht und abends rötlich abdunkelt. Jede und jeder kann die Forschungsergebnisse nutzen und das Beleuchtungskonzept im LebensPhasenHaus kopieren, indem sie die Farbtemperatur der Beleuchtung zuhause im Tagesverlauf verändern. Geeignete Tageslichtlampen gibt es mittlerweile in jedem Baumarkt.

Etwas aufwendigere Utensilien im zweiten Stock, dem Labor des LebensPhasenHauses, sind Exoskelette, also Gestelle, die sich Menschen umschnallen und die einem beim Lastentragen wortwörtlich unter die Arme greifen. In Logistik-Unternehmen erleichtern Exoskelette Lageristinnen und Lageristen bereits heute das Schleppen, auch in OP-Sälen werden sie eingesetzt. Forscherinnen und Forscher passen nun verschiedene Modelle für den Bereich der professionellen Pflege an, zum Beispiel werden Haltegurte angebracht, an denen sich die Pflegebedürftigen festhalten können.

Während der Ehemann des älteren Pärchens im Wohnzimmer auf einer Art Heimtrainer eine virtuelle Radtour macht, zieht es die Ehefrau an den sogenannten Aktivitätstisch. Der Tisch funktioniert als Touchscreen, also als Bildschirm, der auf Berührung reagiert. Die Frau entscheidet sich für ein Reaktionsspiel: Wer zuerst die aufleuchtenden Punkte berührt, gewinnt – Schnelligkeit ist gefragt.


Wer zuerst die aufleuchtenden Punkte berührt, gewinnt!


„Im LebensPhasenHaus geht es im besten Sinne des Wortes um Netzwerkarbeit“, meint Udo Weimar, einer der drei Professoren der Universität Tübingen, die das LebensPhasenHaus initiiert haben und bis heute begleiten. Mittlerweile hat das Modellhaus weitere Einrichtungen inspiriert: Die Evangelische Heimstiftung in Stuttgart oder die BruderhausDiakonie in Reutlingen haben ebenfalls Räume eingerichtet, in denen altersgerechtes Wohnen getestet werden kann. 

Hilde Ehrle ist gemeinsam mit dem älteren Paar mittlerweile entlang der grünen Lichtleiste im Bad angekommen. „Der erste und wichtigste Umbau: Wanne raus, ebenerdige Dusche rein“, erklärt sie. Das ältere Paar hat Zweifel wegen der Kosten. Hilde Ehrle hat auch eine fast kostenneutrale Änderung parat: „Waschmaschine höher lagern! Das geht auch ohne Umbau.“ Nun hat das Paar einige Ideen gehört, gesehen und getestet. Ob sie welche davon mumsetzen, können sie sich überlegen, wenn es so weit ist.


Im LebensPhasenHaus geht es im besten Sinne des Wortes um Netzwerkarbeit.

Prof. Udo Weimar


Text: Franziska Hammer


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