Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2014: Leute
Auf der Suche nach den Spuren des Lebens
Zum Tode von Professor Dr. Adolf Seilacher ein Nachruf von Jobst Wendt
Am 26. April verstarb der international anerkannte Geowissenschaftler Professor Dr. Adolf Seilacher im Alter von 89 Jahren.
Adolf Seilacher wurde am 24. Februar 1925 im schwäbischen Gaildorf geboren. Schon als Halbwüchsiger begeisterte er sich für Fossilien und veröffentlichte mit kaum 18 Jahren seinen ersten paläontologischen Artikel über Haifischzähne aus der oberen Trias seiner Heimat. Mit 26 promovierte er bei dem drei Jahre zuvor nach Tübingen berufenen Professor Dr. Otto Heinrich Schindewolf mit einer Dissertation über fossile Lebensspuren. Die Paläo-Ichnologie, ein bis dahin nur wenig beachtetes Teilgebiet der Paläontologie, wurde damit zum bleibenden Markenzeichen einer einzigartigen Wissenschaftler-Karriere, abgeschlossen durch das 2007 erschienene Buch „Trace Fossil Analysis“. Nach seiner Habilitation 1957 über fossile Kalkschwämme wirkte Adolf Seilacher als Professor an den Universitäten Frankfurt, Bagdad und Göttingen, ehe er 1964 einen Ruf an die Eberhard Karls Universität Tübingen als Nachfolger seines Lehrers O. H. Schindewolf an den damals berühmtesten paläontologischen Lehrstuhl Deutschlands annahm. Trotz späterer Rufe und Gastprofessuren in Kalifornien, Moskau, Buenos Aires, Mossul, Kansas, Kuala Lumpur, Neuseeland blieb er der Universität Tübingen bis zu seiner Emeritierung 1990 treu, seit 1987 nur immer wieder unterbrochen durch eine Professur an der Yale University in New Haven (USA). Einen gewaltigen Schritt nach vorne machte das Tübinger Institut 1970 durch die von ihm initiierte Gründung des ersten geowissenschaftlichen Sonderforschungsbereiches „Paläoökologie“, der über zehn Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde und Geologen, Mineralogen, Geographen, Zoologen, Urgeschichtler und Architekten in gemeinsamen Projekten vereinte. Die Teilprojekte „Fossil-Lagerstätten“ und „Konstruktionsmorphologie“ wurden Begriffe, die mittlerweile ins Angelsächsische übernommen wurden, und eröffneten völlig neue Perspektiven paläontologischer Forschung.
Adolf Seilacher erhielt zahlreiche Preise und Ehrungen internationaler Gesellschaften, die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und war Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Heidelberg und Göttingen, sowie der Academia Sinica in Nanjing (China). Als höchste Auszeichnung erhielt er als bisher einziger Deutscher 1992 den Crafoord Preis, der von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften als Äquivalent zum Nobelpreis für diejenigen Wissenschaften einmal im Jahr vergeben wird, die das Nobel-Komitee nicht berücksichtigt.
Überblickt man das wissenschaftliche Werk Adolf Seilachers, das über 250 Titel umfasst, so beeindrucken vor allem die unglaubliche Bandbreite der Themen, die Originalität und die Präzision der Aussage und der Darstellung. Sie alle tragen seine unverwechselbare Handschrift. Seine beeindruckenden Zeichnungen wurden auf altertümliche Weise mit dem Zeichenspiegel erstellt nach dem Motto: „Was man nicht gezeichnet hat, hat man nicht gesehen“. Fossilien waren für ihn nicht nur steinerne Zeugen, die es zu beschreiben und zu interpretieren galt. Beobachtung und Vorstellung waren ihm wichtiger als Kenntnis, sie waren die Voraussetzung dafür. Dabei ging sein Blick weit über das Detail hinaus in die Bereiche der Evolution, der postmortalen Geschichte der erhaltenen Reste (Taphonomie und Biostratinomie), die Selbstorganisation der Organismen und ihre Mineralisierung, die Funktions- und Konstruktionsmorphologie. Er war nicht nur Paläontologe im weitesten Sinne des Wortes unter Einbeziehung der Zoologie, sondern auch Sedimentologe. Davon zeugen seine Arbeiten über Schwarzschiefer (z. B. den süddeutschen Posidonienschiefer des oberen Lias), Plattenkalke, Sturm-Ablagerungen (Tempestite) und Tiefsee-Sedimente (Turbidite). Eine der bemerkenswertesten Expeditionen zum letzteren Thema war eine Tauchfahrt mit dem mit dem Forschungs-Unterseeboot Alvin, 3500 Meter tief auf den Meeresboden des mittelatlantischen Rückens. Hierbei entdeckte er das rezente Gegenstück zu dem bienenwabenähnlichen Spurenfossil Palaeodictyon, das aus fossilen Turbiditen lange bekannt war. Er prägte den Begriff der „Vendobionta“ für eine rätselhafte Gruppe skelettloser Organismen, die weltweit in Sandsteinen des späten Präkambriums gefunden wurden und deutete sie als riesige Einzeller, die von Biomatten lebten. Wurden sie das Opfer höher entwickelter Beutetiere zu Beginn des Kambriums oder waren sie ein fehlgeschlagener Versuch der Evolution, wie er einmal spekulierte? Diese für Sammler nur schwer zu gewinnenden Abdrücke öffneten ihm wahrscheinlich die Augen für „Fossile Kunst“, mit der er die Brücke von der Wissenschaft zur Ästhetik schlug. Über zwei Jahrzehnte bereiste er mit dem Präparator Hans Luginsland alle Kontinente, um teppichgroße Silikonrepliken von Schichtflächen mit den Spuren vergangener Lebewesen abzugießen. Die naturgetreuen Gipsabgüsse dieser Platten wurden als „Fossil Art“ weltweit in zahlreichen Museen präsentiert.
Seit seiner Berufung lag ihm das Tübinger Paläontologische Museum am Herzen. Denn besonders wichtig war ihm die Vermittlung seiner Wissenschaft für ein breites Publikum, in Vorträgen, Vorlesungen, Führungen, Kursen und Exkursionen. Er faszinierte Studenten und Laien gleichermaßen durch seinen brillanten Vortragsstil, seine Fähigkeit, Gedanken zu entwickeln und seine Hörer in Bann zu ziehen, auch wenn es manchen gelegentlich schwer fiel, seiner überbordenden Begeisterung und Fantasie in jedem Detail zu folgen.
Das Leben eines unvergesslichen Menschen ist zu Ende gegangen. Er hinterlässt eine große Lücke und Spuren, die für seine Nachfolger zu groß sind. Wir trauern um ihn als Mensch, Forscher und Lehrer, der uns ein Vorbild bleiben wird. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern.