Die Neurowissenschaften haben eine ungeheure Bandbreite, die von der Betrachtung biochemischer Prozesse in Zellen über die Informationsverarbeitung in neuronalen Netzwerken bis hin zu beobachtbarem Verhalten reicht. Am Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN), dem Exzellenzcluster der Universität Tübingen, wird neurowissenschaftliche Forschung mit einem integrativen Zugang betrieben. Das heißt, die verschiedenen Untersuchungsebenen – von Zellen über Netzwerke bis hin zu Kognition und Verhalten – werden gleichberechtigt betrachtet. Drei konkrete Beispiele aus der aktuellen Forschung am CIN machen dies deutlich:
- Auf der Zellebene angesiedelt ist das Projekt von Dr. Jing Hu, die über die Entstehung und Weiterleitung von Berührungsreizen arbeitet. Eine soeben erschienene Studie(1) ihres Teams konnte zeigen, dass neben den bereits bekannten Ionenkanälen, die durch in der Zellmembran lokalisierte Berührungsrezeptoren Reiz-Reaktionen auslösen, ein weiterer Mechanismus greift: Die Steifigkeit oder Nachgiebigkeit der Zellmembran selbst ist von ebenso großer Bedeutung. Sie wird von zwei Substanzen geregelt, Cholesterin und einem Stomatinartigen Protein. Da man das Zusammenspiel der beiden Stoffe wirkungsvoll stören kann, ergeben sich hier vielversprechende Möglichkeiten für die Entwicklung von Medikamenten für Patienten, die an chronischen Schmerzen leiden.
- Das Team von Dr. Ingrid Ehrlich untersucht lokale Netzwerke und Veränderungen von Schaltstellen zwischen Nervenzellen, den Synapsen, in einer bestimmten Gehirnregion, dem „Mandelkern“. Diese Struktur bewertet Sinnesreize und ordnet ihnen Gefühlsempfindungen zu, z.B. beim Erlernen von Furcht vor einer wahrgenommenen Gefahr. Die Forschergruppe konnte in diesem Frühjahr in einer Studie(2) zeigen, dass Veränderungen von Verschaltungen (sog. synaptische Plastizität) im „Mandelkern“ dazu führen, dass Furcht „erlernt“ (konditioniert), aber auch wieder „überwunden“ (extingiert) werden kann. Beteiligt sind dabei neue Verschaltungsmuster einer besonderen Sorte Nervenzellen, der sog. medialen interkalierten Zellen, die die Forscher identifizieren konnten. Diese bisher wenig beachteten Zellen können eine Art Türsteherfunktion haben, um Furchtreaktionen wahlweise zu verstärken oder abzumildern.
- Die Gruppe um Dr. Markus Siegel untersucht, wie weitreichende Netzwerke im Gehirn Kognition und Verhalten prägen. So konnte sie das Fällen von Entscheidungen auf ein Wechselspiel verschiedener Hirnregionen zurückführen. In einer in diesem Sommer veröffentlichten Studie(3) suchten sie nach dem Ort, an dem das Gehirn entscheidet, was zu tun ist, wenn verschiedene Reaktionen möglich sind. Die Forscher konnten zeigen, dass Entscheidungen nicht in einer einzigen Hirnregion gefällt werden, sondern auf einem Informationsaustausch zwischen Partnern in weit auseinanderliegenden Teilen des Gehirns basieren. Handlungsentscheidungen hängen sehr von der Situation ab, in der man sich gerade befindet. Das Gehirn sammelt und verknüpft benötigte Informationen in einem dichten Netz sogenannter Assoziationsbereiche des Stirn- und Scheitellappens, die gleichberechtigt zur Entscheidungsfindung beitragen. Diese Erkenntnisse könnten helfen, auch krankhafte Veränderungen des Denkens und der Wahrnehmung, beispielsweise bei Schizophrenie, besser zu verstehen und langfristig Therapien zu entwickeln.
Obwohl die einzelnen Projekte meist ein besonderes Gewicht auf eine spezifische Ebene der Neurowissenschaften legen, wären diese Ergebnisse ohne die Berücksichtigung von Erkenntnissen über die anderen Untersuchungsebenen nicht möglich oder nur schwer bewertbar. Die am CIN gewonnenen grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisse schaffen die Grundlage für weitergehende, anwendungsorientierte Forschung und die Entwicklung neuer Anwendungen in den Bereichen Technik und Therapie.