Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2024: Studium und Lehre

Bachelorarbeit für Oscar nominiert: Sara Ceviks Kurzfilm „Drowning“ entstand am Institut für Medienwissenschaft

Film erzählt von sexueller Gewalt gegen Minderjährige, will aber zugleich Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu holen

Sara Cevik studiert Medienwissenschaft und ist mit ihrer Abschlussarbeit „Drowning“ (Ertrinken) für den Studierenden-Oscar 2024 nominiert. Im Interview berichten sie und ihr Betreuer PD Dr. Ulrich Hägele von der Entstehung des Films.

Interview mit Sara Cevik

Frau Cevik, Ihr Film trägt den Titel Drowning, übersetzt „Ertrinken“… 
Meine Protagonistin erzählt in der Rückschau über die sexuelle Gewalt, die sie erfahren hat, seitdem sie ein kleines Kind ist. Diese Gewalt fühlt sich für sie an, als würde sie im Meer ertrinken. Sie fühlt sich hilf- und schutzlos. Aber sie erzählt das reflektiert, denn sie ist bereits an einem Punkt angekommen, an dem sie das, was ihr angetan wurde, einordnen kann. Sie hat verstanden, dass sie nicht schuldig ist. Und vor allem: sie kann jetzt darüber reden. Denn genau das kann man meistens nicht, wenn man noch mittendrin in einer Gewaltkonstellation steckt. Aber meiner Protagonistin gelingt es am Schluss, sich freizuschwimmen, sich zu befreien. 

Mir war bewusst, dass der Film viele von Gewalt Betroffene erreichen würde. Deswegen war es mir wichtig, ihnen wieder Hoffnung zu vermitteln, ohne dabei ins Kitschige abzudriften. Der Film gibt keine konkrete Lösung für die Betroffenen vor, sondern er will einfach ermutigen, nicht aufzugeben und sich Unterstützung zu holen.

Wie sind Sie zum Film gekommen?
Ich bin 22 Jahre alt und studiere seit 2020 Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und bin jetzt im dritten Master-Semester. Aktuell mache ich ein Praktikum bei Daimler Truck in der Kommunikationsabteilung.

Ich bin ein kreativer Mensch und habe schon immer fotografiert, deswegen habe ich mich nach der Schule für Medienwissenschaft entschieden. Es gibt da viele Möglichkeiten und ich wollte für mich herausfinden: Ist es eher Fotografie, Radio oder Film? Tatsächlich habe ich Videografie und Film erst im Studium für mich entdeckt. 2022 habe ich an der Tübinale teilgenommen, mitten in der Corona-Zeit. Bei diesem Filmfestival habe ich zusammen mit zwei Freundinnen mit dem Film „On“ die Preise für den besten Film und die beste Produktion gewonnen. Ich habe da schon Kamera gemacht und gespürt, es kommt gut an. Das hat mir gezeigt, in welche Richtung es gehen soll.

Warum haben Sie für Ihre Abschlussarbeit ein so schwieriges Thema gewählt? 
Ich bin schon ein Jahr vor dem Film dem Verein „Nein! Lass das“ beigetreten, der Präventions- und Aufklärungsarbeit gegen Gewalt an Kindern und Jugendlichen macht, insbesondere sexuelle Gewalt. Ziel ist es auch, Menschen – Familienangehörige, Erzieher, Lehrer, Nachbarn - zu sensibilisieren, mit diesem Thema umzugehen. Denn auch wenn jemand Signale eines betroffenen Kindes wahrnimmt, weiß die Person häufig nicht, was sie tun oder wie sie helfen kann. Deswegen versuche ich in meinem Umfeld, in Kindergärten oder Schulen aufzuklären und hinterlasse auch Flyer zu diesem Thema. Ich hatte über den Verein auch direkten Kontakt zu Menschen, die Gewalt in ihrer Kindheit erlebt haben. Diese Erfahrung hat meinen Film mitgeprägt. 

Ich habe mich aber auch mit den konkreten Zahlen beschäftigt: Auch in Deutschland sind unglaublich viele Kinder von Gewalt – pro Schulklasse bis zu vier Kinder im Durchschnitt – betroffen, darüber hinaus gibt es noch eine sehr hohe Dunkelziffer. Diese Tatsache war für mich auch eine große Motivation für das Projekt „Drowning“, ohne dass ich mich dabei an einem konkreten Fall orientiert habe.
 

Dieses Werkstück ist ja zugleich Ihre Bachelorarbeit…
Für mich war es sehr wichtig, mich bei diesem Projekt wirklich herauszufordern und auf diese Weise herauszufinden, ob ich so etwas auch später tatsächlich machen möchte. Ich habe mich sehr früh mit Ulrich Hägele, meinem Betreuer am Institut für Medienwissenschaft, zusammengesetzt und darüber ausgetauscht, was ich machen möchte und wie ich es umsetzen kann: Wo liegen technische Grenzen und wie weit kann ich gehen, damit am Ende das Gesamtbild auch Sinn ergibt und die einzelnen Bilder zusammenkommen. Nachdem das Drehbuch fertig und abgenommen war, ging es richtig los: Organisieren, Drehtage planen, eine Schauspielerin finden und das Team zusammensetzen. Denn schon während des Bachelorstudiums habe ich gelernt, dass ich nicht Ton und Kamera gleichzeitig machen kann. Natürlich ist der Film mein Projekt bzw. ist gewissermaßen eine One-Woman-Show, aber ich brauche trotzdem ein Team um mich herum, das mir Impulse gibt und mich unterstützt. Über alle vier Drehtage bestand mein Team aus über zehn Personen, auch wenn nicht immer alle gleichzeitig am Set waren. Für die Rolle meiner Protagonistin musste ich eine Weile suchen und bin dann mit Neele Walter an eine junge Schauspielerin mit viel Theatererfahrung gekommen, das war ein echter Glücksfall.

Erzählen Sie ein bisschen von den Dreharbeiten…
Wir hatten für den Dreh verschiedene Locations: Wir waren unter anderem am Kirchentellinsfurter Baggersee und sind für die Unterwasserszenen ins Naturfreibad Herrenberg gegangen, weil das Wasser so authentisch wie möglich sein sollte. 

Ich hatte auch noch nie zuvor eine Unterwasser- oder eine Regen-Szene gedreht. Für die Unterwasserszene benötigt man beispielsweise eine Kamera mit Autofokus, aber die Kameras im Zentrum für Medienkompetenz haben das nicht. Deswegen musste ich mir dafür eine Sony FX 30 ausleihen und zusätzlich eine Unterwasser-Kamerahülle. Die Regenszene war nicht improvisiert, sondern sehr gut durchgeplant. An professionellen Sets gibt es richtige Regenmaschinen – wir haben das stattdessen mit einem Hochdruckreiniger gemacht, das hat richtig Spaß gemacht.

Ihr Film ist nur fünf Minuten lang und dennoch sehr eindrücklich und bewegend, auch durch den Text der Protagonistin, den man gleichzeitig lesen und hören kann. Sprechen wir über die Bildsprache des Films, über die Natursymbolik…
Die Natur ist für mich ein Ort, an dem ich runterkommen kann und zugleich alle menschlichen Emotionen wiedererkennen kann. Das habe ich versucht in dem Film zu zeigen, sei es durch die vertrockneten Blätter oder die verwelkten Blumen. Sie stehen für mich sinnbildlich für die innere Zerrissenheit meiner Protagonistin und auch für die Unschuld, die ihr genommen wurde, sowie die dunklen Flecken, die auf ihrer Seele lasten. 

Häufig tragen Frauen in solchen Filmen weiße Kleider, weil weiße Kleider die Unschuld repräsentieren. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, meine Protagonistin trägt ein schwarzes Kleid, weil sie eben genau diese Unschuld nicht mehr spürt. Sie fühlt sich beschmutzt, so als wäre ihr alles geraubt worden, was sie hatte. 

In meinem Film spricht die Protagonistin über ihren Vater. Aber es war mir wichtig, zu zeigen, dass auch die Mutter Bescheid wusste, sie ist nicht unschuldig. So steht die Mutter für alle im Umfeld der Betroffenen, die etwas mitbekommen, aber nichts dagegen tun. Das passiert in der Realität leider ganz häufig.

Ihr Film ist bereits preisgekrönt und jetzt auch im Rennen für den Studierenden-Oscar (Student Academy Awards), der am 29. Oktober 2024 in Los Angeles verliehen wird… 
Ja, ich bin dabei, in der Kategorie Kunstfilm. Aber es ist noch unklar, ob mein Film gezeigt wird oder ob ich ins Finale komme. 

Im Frühjahr war ich bereits beim TimeLine Filmfestival im italienischen Monza (Carate Brianza) dabei und habe mit Drowning den Preis für den besten Film in der Kategorie “Human Rights and Legality” gewonnen. 

Demnächst zeige ich meinen Film noch bei einem Festival in Hamburg an, danach möchte ich ihn auch veröffentlichen, unter anderem auf der Plattform YouTube. Langfristig ist mein Ziel, dass der Film „Drowning“ auch als Präventionsfilm etwa von Kinderschutzvereinen verwendet wird. 

Das Interview führte Maximilian von Platen
 


„Beim lauten Sprechen merkt man relativ schnell, ob Dialoge funktionieren oder nicht“

Interview mit Ulrich Hägele

PD Dr. Ulrich Hägele kommt ursprünglich aus der Empirischen Kulturwissenschaft und hat beim SWR sowohl für den Rundfunk als auch für das Fernsehen gearbeitet. Seit 2006 arbeitet er am Institut für Medienwissenschaft. Hägele hat Sara Ceviks Abschlussarbeit betreut.

Ulrich Hägele, welche Werkstücke können Studierende in der Medienwissenschaft als Abschlussarbeit vorlegen?
Wir sind da sehr offen, das umfasst Audioformate wie Podcast oder Radiofeature, klassische Printprodukte wie etwa die Nullnummer einer Zeitschrift, Blogs, Ausstellungen, Multi-Media-Produkte bis hin zu Foto- oder Filmprojekten, wie bei Sara Cevik.

Bei uns in Tübingen dominieren Audio- und Videobeiträge, für die wir in Tübingen – im Gegensatz zu Print – verschiedene eigene Ausspielkanäle (UKW-Livestream über den Tübinger CampusFunk Radio MicroEuropa als Teil des Freien Radios Tübingen-Reutlingen Wüste Welle bzw. CampusTV oder YouTube) haben. Gerade in der Corona-Zeit haben Audioformate wie Podcasts stark zugenommen, da man diese leichter auch alleine produzieren kann.

Wie läuft die Betreuung eines solchen Projekts ab?
Am Anfang treffe ich meine Studierenden jede Woche, seit Corona alles online. Bei prekären Themen oder schwierigen Projekten kann diese Frequenz auch höher sein. Wir gehen Schritt für Schritt voran und die Studierenden kriegen jedes Mal konkrete Hausaufgaben von mir, die sie machen müssen. Manchmal merkt man nach kurzer Zeit, dass ein Projekt aus ganz unterschiedlichen Gründen so nicht umsetzbar ist, dann muss man gemeinsam nach einer Modifizierung oder einem Plan B schauen.

Grundsätzlich beträgt die Frist für die Erstellung einer Bachelorarbeit ab Anmeldung neun Wochen, das ist nicht lang. Wenn Studierende aber unbedingt einen längeren Film als Abschlussarbeit einreichen möchten, kann man natürlich die Arbeit einfach etwas später anmelden.

Wie ist das konkret bei Filmprojekten?
Im filmischen Bereich brauchen die Studierenden grundsätzlich einen Kameraführerschein, den sie bei uns machen können.

Es gibt Studierende, die sich das Format Film bewusst für ihre Abschlussarbeit aufheben und dann nicht wissen, dass sie auch eine Beleuchtung brauchen, dass man die Audiospur nicht mit der Kamera einfach aufzeichnet, sondern ein externes Mikrofon braucht oder dass sie einen Film – in der Regel – nicht alleine machen können.

Andere haben im Laufe ihres Studiums schon mal an einen kleineren Film gedreht, beispielsweise für unser Filmfestival Tübinale. Aber so eine längere Produktion ist nochmal etwas ganz anderes: Wie sieht die Dramaturgie aus? Welche Interviews macht man? Welche Bilder zeigt man? Gibt es einen Ton aus dem Off als Erzählton? Das muss alles geklärt werden. 

Die Drehbücher spreche ich mit den Studierenden von A bis Z durch. Beim lauten Sprechen merkt man relativ schnell, ob Dialoge funktionieren oder nicht. Sonst müssen sie noch einmal umformuliert werden, damit die Schauspieler sie auch sprechen können.

Wie war die Abnahme bei Sara Cevik?
Bei Sara wusste ich, dass sie schon mal einen Film vorgelegt hat, der erfolgreich war. Deswegen brauchte sie keine so intensive Betreuung und hat nach den Vorbesprechungen ihren Film sehr selbständig innerhalb von drei Wochen gedreht und produziert. 

Dann gab es eine Rohschnitt-Abnahme, zu der ich meinen Kollegen Oliver Häussler von CampusTV hinzugezogen habe. Auch im professionellen Bereich ist es immer so, dass nicht einer den Film abnimmt, sondern ein Team. 

Anschließend haben wir Sara ein paar Kleinigkeiten gesagt, die sie aus unserer Sicht ändern sollte. Einen dieser Vorschläge hat sie am Ende nicht übernommen, aber das ist dann eben künstlerische Freiheit. 

Das Interview führte Maximilian von Platen