Alte Geschichte

Das Tübinger Lykien-Projekt

Gräber und Grabtypen im Bergland von Yavu

Lykien hat insbesondere wegen seiner fast unüberschaubaren Zahl von Gräbern bereits im 19. Jh. das Interesse der Forschungsreisenden auf sich gezogen. So ist es dann auch als Land der Sarkophage, Felsgräber und Grabpfeiler über die Grenzen der Archäologie hinaus bekannt geworden. Im Mittelpunkt des Interesses standen jedoch in der Regel die größeren Siedlungen wie Xanthos, Trysa oder Limyra mit ihren ausgedehnten Nekropolen und architektonisch aufwendig gestalteten Grabmälern. Die Untersuchung dieser Gräber erfolgte gewöhnlich selektiv, wobei zumeist die Existenz von an ihnen angebrachten Reliefs oder Inschriften das Auswahlkriterium bildete.

Im Rahmen der Erforschung des Yavu-Berglandes durch das Tübinger Lykien-Projekt ist nun erstmalig der nahezu vollständige Bestand der an der Oberfläche mit den Methoden der Feldforschung noch faßbaren Gräber einer antiken Siedlungskammer dokumentiert und wissenschaftlich ausgewertet worden. Neben den Gräbern der größeren befestigten Siedlungen wurden auch diejenigen registriert, die zu den zahlreich im Umland vertretenen weilerartigen Siedlungen und Gehöften gehören oder teilweise sogar isoliert in der Landschaft liegen. In diesem Gesamtrepertoirevon ca. 1250 Gräbern finden sich einerseits die schon genannten altbekannten Typen, andererseits aber auch solche, die bislang in Lykien weitgehend oder sogar völlig unbekannt waren. Somit ergibt sich eine Unterteilung der lykische Gräber in folgende Typen:

1. Grabpfeiler

Sie kommen ausschließlich in Siedlungen vor, und ihr Vorkommen ist auf die archaische und klassische Zeit beschränkt. Zudem sind sie offensichtlich mit einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, den sogenannten Dynasten, verknüpft.

2. Hausgräber/Grabhäuser

Sie setzen eine genuin lykische Holzbauweise dreidimensional in Stein um, wobei als Vorbild offensichtlich die Sakral- oder die herrschaftliche Hausarchitektur dient. Dieser Grabtyp ist ebenfalls auf die Siedlungen beschränkt, kommt im frühen 5. Jh. v. Chr. auf und hält sich bis in das frühe 4. Jh. v. Chr. Er läßt sich ebenfalls mit der herrschenden Oberschicht in den Siedlungen verbinden. Hausgräber finden sich häufiger in Kombinationen mit anderen Grabtypen, z.B. als Grabhaus-Sarkophag.

3. Felsfassadengräber

Bei ihnen handelt es sich um die zweidimensionale Übertragung der Hausgrabfassaden an eine Felswand. Hinter der Fassade öffnet sich eine meist weniger aufwendig gestaltete Grabkammer, die in der Regel mit Totenbetten ausgestattet ist und durch einen Zugang zu betreten ist, der mit einer steinernen Schiebetür verschlossen wird. Die Felsfassadengräber entstehen wohl kurze Zeit nach dem Aufkommen der Hausgräber und werden auch von breiteren Gesellschaftsschichten bis in das 4. Jh. v. Chr. hinein genutzt. In der 2. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. dringen immer stärker griechische Elemente in die Architektur der Felsfassadengräber ein.

4. Einfache Felsgräber

Sie präsentieren sich als schlichte Kammern im Felsmit einer mehr oder weniger rechteckigen oder quadratischen Öffnung. Sie waren gewöhnlich bis auf ein kleines Zugangsloch zugemauert, das zuletzt mit einer Steinplatte verschlossen wurde. Während diese Gräber bislang in der Forschung häufig als "degenerierte Nachläufer" der Felsfassadengräber begriffen wurden, was eine Datierung in die nachklassische Zeit oder später implizierte, kann nunmehr ihr Einsetzen in klassischer Zeit angenommen werden. Von da an besteht wohl eine Kontinuität bis in die Kaiserzeit oder in die Spätantike, wobei es sich aber so gut wie ausschließlich um die Belegung bereits älterer Gräber handeln dürfte.

5. Sarkophage

Sie lassen sich in zwei Grundtypen aufteilen. Beim ersten Typ handelt es sich um eine verkleinerte Forem des Grabhauses, das als Kasten dient und mit einem spitzbogigen Deckel, der ebenfalls Holzarchitektur imitiert, versehen ist. Diese Art von Sarkophagen ist verhältnismäßig selten, und ihr Auftreten ist auf die klassische Zeit beschränkt.
Offensichtlich parallel zu diesen "Riegelbausarkophagen" etabliert sich ein zweiter Typ. Er stellt eine Kombination des genuin lykischen Spitzbogendeckels mit der Truhenform griechischer Sarkophage dar. Diese Truhenform ist in Griechenland ihrerseits auf eine Holzbauweise zurückzuführen, die allerdings nicht einem architektonischen Vorbild folgt, sondern einer Geräte- bzw. Möbelform, nämlich der Holztruhe.
Als Relikt dieser ursprünglichen Bauweise sind die langrechteckigen, auf allen Seiten eingetieften Paneele zu betrachten, denen aber recht bald eine Funktion als Inschriftenträger zukommt. Sie werden schließlich durch eine oder mehrere Tabulae ansatae ersetzt, deren Typenvielfalt gemeinsam mit den Inschriften den Hauptzugang zur Datierung dieser Art von Sarkophagen bildet. Der Sarkophag ist der beständigste lykische Grabtyp, der in seiner charakteristischen Form vom 4. Jh. v. Chr. bis in das 4./5. Jh. n. Chr. - und damit bis in christliche Zeit - beibehalten wird. Nur eine relativ seltene Modeerscheinung stellt im 2. Jh. n. Chr. das Auftreten dreiecksgiebliger Deckel pamphylischen Typs dar.

6. Miniatursarkophage (Stereotaphe)

Eine Eigenart stellen kleine massive Miniatursarkophage mit spitzbogigem oder dreiecksgiebligem Deckel dar, die offensichtlich in hellenistischerZeit und in der Kaiserzeit eine geringe Verbreitung finden. Da keiner dieser Sarkophage bislang in seinem ursprünglichen Aufstellungskontext gefunden wurde, läßt sich über die Art der Bestattung nur spekulieren. Einerseits wird an Kenotaphe gedacht, andererseits könnten sie als Grabsteine über einer Erd- oder Urnenbestattung gedient haben.

7. Chamosorien

Als eigenständiger Grabtyp können vielleicht auch die Chamosorien betrachtet werden, obgleich gewisse Überschneidungen mit den Sarkophagen bestehen. Chamosorien sind in den Felsboden eingeschnittene einfache Grabgruben, die mit einem Deckel abgedeckt waren. Dieser bestand offenbar bei den frühesten, wohl archaischen Vertretern aus einem nahezu unbearbeiteten Felsblock, während später dreiecksförmige sowie seit hellenistischer Zeit auch spitzbogige Deckel Verwendung finden.

8. Tumuli

Tumuli sind erst seit den 1970er Jahren aus Zentrallykien bekannt geworden, und bisher galten sie als Ausnahme oder sogar als Fremdkörper innerhalb der lykischen Grabarchitektur. Durch die Forschungen im Yavu-Berglandhat sich gezeigt, daß der Tumulus für die archaische und klassischeZeit einen festen Platz unter den lykischen Grabtypen beanspruchen kann. Es handelt sich sogar neben dem 'freistehenden Kammergrab' um die früheste eisenzeitliche Grabform in Lykien (Datierung der frühesten Vertreter durch entsprechende Keramik in das 7./6. Jh. v. Chr.), die zudem häufig monumentale Ausmaße erreicht. Charakteristisch für die Tumuli Lykiens ist der hohe Steinanteil an der Aufschüttung, was einen Unterschied zu den Grabhügeln vieler anderer antiker Landschaften darstellt.

9. Kammergräber

Das 'freistehende Kamergrab' bildet den zweiten Grabtyp, dessen Einsetzen sich aufgrund von Keramikfunden in das 7./6. Jh. v. Chr. datieren läßt. Dieser Typus, der offensichtlich bis in (früh-?)hellenistische Zeit errichtet wird, war bis zum Beginn der Tübinger Feldfoschungen für Lykien vollkommen unbekannt. Er ist durch eine aufgemauerte und üblicherweise mit einem Kragsteingewölbe abgedeckte Grabkammer charakterisiert, die durch einen Zugang auf der Frontseite zubetreten war.
Neben diesen architektonisch aufwendiger gestalteten Kammergräbern existiert noch ein vergleichsweise bescheidenerer Typ,derjenige des 'kleinen Kammergrabes'. Seine Vertreter sind häufig leicht in den Boden eingetieft, wobei die Seitenwände ebenfalls aufgemauert sind; auch ein Zugang existiert in vielen Fällen. Die Abdeckung ist in der Regel aus großen Steinplatten gebildet. Zeitlich entsteht dieser Typ wohl annähernd parallel zu den 'freistehenden Kammergräbern',findet aber vermutlich aufgrund seines geringen Aufwandes beim Bau sogar bis in byzantinische Zeit eine gelegentliche Verwendung.

10. Podium- und Terrassengräber

Podium- und Terrassengräber gehören zum selben Grabtyp und unterscheiden sich allein durch ihre Lage. Während die Podien freistehend sind, sind die Terrassen rückwärtig an einen Hang gesetzt. Gewöhnlich besitzen beide Anlagen einen ungefährrechteckigen Grundriß. Von den Terrassengräbern existiert aber auch ein halbrunder Untertyp. Sämtliche Gräber zeichnen sich durch hohe Einfassungsmauern aus, wobei der umgebene Raum mit Erde und Bruchsteinen verfüllt ist. Innerhalb dieser Verfüllung liegendann eine oder in wenigen Fällen auch mehrere Grabkammern, die teilweiseeinen Zugang von außen besitzen können.
Hinsichtlich des Aufbaus dieser Gräber besteht eingewisser Dissens. Während A. Thomsen für die Gräber dieses Typs in der Nekropole der Siedlung auf dem Avsar Tepesi von einem aus Holzerrichteten Oberbau ausgeht, wird von O. Hülden eine begehbare, offene Oberfläche favorisiert. Dieser Grabtyp ist hauptsächlich in archaischer und klassischer Zeit verbreitet.

11. Weitere Gräber

Neben diesen klar definierten Grabtypen lassen sich nochweitere anführen, die entweder bislang nur in sehr geringer Zahl angetroffen wurden oder sich (noch) nicht klar fassen lassen. Dazu gehört eine Reihe von Gräbern, die in so erheblichem Maße natürliche Gegebenheiten, wie z.B. Felsräume oder -spalten nutzen, daß sie nur schwer erkennbar sind. Ferner sind in Patara weitgehend natürliche Grüfte entdeckt worden, die im Hellenismus und in der Kaiserzeit als Gräber dienten. Bei ihnen handelt es sich jedoch bisher um ein lokales Phänomen. Im übrigen ist - vermutlich in nicht allzu großer Zahl und von regionalen Gegebenheiten abhängig - mit diversen Formen von Erdbestattungen zu rechnen. Dabei kommen offensichtlich neben Körper- auch Urnenbestattungen vor.

Den Tübinger Feldforschungen ist demnach erstmalige in differenziertes und für alle antiken Epochen gültiges Gesamtbild vermutlich aller - oder zumindest der allermeisten - in Lykien jemals genutzten Grabtypen zu verdanken. Mit der Analyse dieser Gräber ist ein weiterer entscheidender Beitrag geleistet worden, um zu einem umfassenderen Verständnis der antiken Grabarchitektur und -kultur in Lykien zu gelangen.

Literatur:

  1. O. Hülden, Gräber und Grabtypen im Bergland von Yavu (Zentrallykien). Studien zur antiken Grabkultur in Lykien (Antiquitas Reihe 3, Bd. 45,1-2), Bonn 2006
  2. Ders., Überlegungen zur identitätsstiftenden Wirkung lykischer Gräber, in: Zentralinstitut für Sepulkralkultur (Hg.), Creating Identities. Referate der Internationalen Fachtagung im Museumfür Sepulkralkultur vom 30.10.-2.11.2003, Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, im Druck
  3. Ders., Gräber im Umland von Teimiussa und Tyberissos (Zentrallykien) - Ein Beitrag zur Kenntnis der lykischen Gräberlandschaft, Boreas 27, 2004, 15-65
  4. Ders., Lykische Grabtypen und ihre anatolischen Wurzeln: Überlegungen zum Terrassengrab von Seyret, dem Kyrosgrab und Gavurkalesi, Boreas 27, 2004, 1-13