Hölderlins Geist
Eines der drei wichtigsten Dinge, die ich in der Zeit, während ich in der unter Belagerung stehenden Stadt Sarajevo lebte, gelernt habe: Der Mensch kann niemals sicher wissen, wie weit weg er von Zuhause ist, noch, wann er zurückkehren können wird, nachdem er weggeht.
Seitdem ist fast ein Vierteljahrhundert vergangen, ich war in Tübingen, in dem Turm, in welchem, nachdem er den Verstand verloren hatte, der größte Schriftsteller der deutschen Romantik, Friedrich Hölderlin, die letzten 36 Jahre seines Lebens verbracht hatte. Um ihn hat sich, angeblich, ein aufgeklärter Schreiner gekümmert, ein Leser bedeutender Bücher, der ihn ernährt, auf ihn aufgepasst und seine neu entstandenen Manuskripte, die mit Erzeugnissen seines wahnhaften Verstandes ausgefüllt waren, ins Feuer geworfen hat. Heute kann man nur wenig über den Dichter-Wahnsinn wissen, genauso wie man generell kaum etwas darüber wissen kann, was in den vorangegangenen Jahrhunderten als Wahnsinn angesehen wurde. Noch in jenem unseren, 20. Jahrhundert, haben alle bis zum Ende irgendetwas als verrückt angesehen, was heute als vollkommen normal gilt. Wer weiß, ob Hölderlin nach den heutigen Kriterien durch und durch verrückt gewesen wäre, für den Schreiner und für den Turm am Ufer des Flusses Neckar, auf dem die betrunkenen Studenten in Ausflugsbooten fahren, abgelegte Prüfungen, Geburtstage und zu guter Letzt Feste um der Jugend willen feiern. Die heutigen Deutschen würden ein Vermögen für alle diese Papiere geben, die der Schreiner Ernst Zimmer mit Verachtung und nach und nach auch mit Angst – weil man sich noch im 19. Jahrhundert vor der allmählichen Ansteckungsgefahr oder dem mentalen Magnetismus aller Verrücktheit gefürchtet hat – täglich zerstörte.
Hier im Hölderlinturm beginnt gerade der Vortrag zur deutschen Übersetzung des Buches „Rod“. Es herrschte Stille, ich atmete ein, um sprechen zu beginnen, als ich durch die geöffneten Fenster – denn es ist furchtbar heiß, und die Deutschen, anders als wir, befestigen keine Klimaanlagen auf den Denkmälern der Kultur – ein hysterisches Quaken einer Ente auf dem Neckar hörte. Ich sagte: Da empört sich der Geist Friedrich Hölderlins! Das Publikum lachte los, und mir war nicht bewusst, in was ich mich gestürzt habe und wie meine Reise enden wird.
Nach dem Abend, der im Einklang mit den Erwartungen und dem Zeremoniell vorbeiging, welches, im Großen und Ganzen, jedem bekannt ist, der von Zeit zu Zeit ins Ausland geht, zur Befriedigung für das, was er im tauben Zimmer der kroatischen Sprache und der ihr angeblich zugehörigen Literatur tut, und nach dem Mahl auf der Terrasse des örtlichen Restaurants allgemeinen Typs, der Nacht im Hotel Hospiz ein morgendlicher Spaziergang durch Tübingen, das deutsche Universitätszentrum, einer der wichtigsten Festungen westeuropäischer Theologie – von hier aus wirkte Jahrzehnte lang, Rom nervend, der große Hans Küng –: übrigens ein Städtchen von ca. 80 000 Bewohnern, mit Buchhandlungen, Antiquariaten und Ausstellungen einer uns so fernen Welt, aber ohne ein einziges Multiplexkino und Einkaufszentrum in der Stadt oder in deren Umgebung. Beides, Multiplexkinos und Einkaufszentren, verhinderte der grüne Bürgermeister Boris Palmer (Jahrgang 1972), der seit 2007 über die Stadt regiert und Wahlen schon in der ersten Runde mit der großen Mehrheit der Wählerstimmen gewinnt.
Jeder Fußstapfen ist in Tübingen wahrscheinlich historisch: In jedem Haus, auf jedem Schritt lebte, arbeitete oder predigte hier so manch ein Unsterblicher. Ich fotografiere mich vor dem Haus, an dem Alois Alzheimers Gedenktafel angebracht ist, sonst ist er ein Breslauer, der in Tübingen zum ersten Mal die Krankheit vorgestellt hat, durch die er berühmt geworden ist. Und überhaupt, das ist eine der relativ seltenen Gedenktafeln. Anstatt seine namenhaften Mitbewohner auszuzeichnen – Bürger dieses Städtchens sind für Europa wahrscheinlich wichtiger und in Europa bekannter als das Land, aus welchem ich angereist bin –, ist in Tübingen jeder, aber auch wirklich jeder, Ort gekennzeichnet, der zur Zeit des Dritten Reiches wichtig war. So können wir erfahren, wo die Gestapo war, wo die Polizei die Leute drangsaliert hat, wohin „rassisch unsaubere“ Mitbewohner und Kommunisten abgeführt wurden, wo der blutgierige Chef der Gestapo gehaust hat… Die Stadt ist also vollständig mit der Geschichte der deutschen Schande kartographiert. Was wirklich interessant ist, weil Tübingen ein Ort des größten deutschen Ruhms ist. Aber der Ruhm wird sich selbst erinnern und um die Schande müssen sich die zuständigen Leute kümmern.
Und so bin ich Tübingens Charme ganz erlegen, nicht wissend, was mich weiter erwartet und wie ich dafür bezahlen werde, dass ich Friedrich Hölderlins Geist beleidigt habe, indem ich ihn im Laut einer Ente wiedererkannte.
Miljenko Jergović
(Übersetzt von drei Teilnehmerinnen des Lektürekurses: Martina Grčak, Nicole Jundt, Jennifer Döring)