International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Sie sind nicht unsere Feinde!

Warum Joe Biden zu Recht dazu aufruft, politische Gegner nicht als Feinde zu betrachten.

von Dr. Marcel Vondermaßen

24.11.2020 · In seiner ersten Ansprache als „president elect“ forderte Joe Biden am 07.11.2020 beide Seiten einer unversöhnlich wirkenden politischen Landschaft in den USA dazu auf, ihre Haltung zueinander zu verändern. „We have to stop treating our opponent as our enemies. They are not our enemies. They’re Americans.” Er bezieht sich dabei auf die Anhänger*innen der in den USA vorherrschenden Parteien der Demokraten und von Präsident Trumps Partei der Republikaner, die sich seit Jahren immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Bidens Aufforderung mag naiv wirken, wenn Präsident Trump am gleichen Tag den Demokraten Wahlfälschung vorwirft, immerhin ein schweres Verbrechen, oder einer seiner Söhne Trump auf Twitter auffordert, für die Wahl in den „totalen Krieg“ zu ziehen.

Dieser Artikel wird jedoch aufzeigen, dass Bidens Aussage nicht naiv ist, sondern auf ein Grundproblem pluralistischer Demokratie hinweist: Selbst in einer politischen Kultur, in der politische Gegner*innen die Befürworter*innen einer pluralistischen Demokratie als Feinde deklarieren, darf diese Feindschaft nicht gleichermaßen erwidert werden. Denn demokratische Gesellschaften beruhen auch auf einem Gemeinwohlgedanken, der ohne Zusammenhalt nicht möglich ist. Antagonistische „Wir vs. Sie“-Konstellationen schwächen, beziehungsweise zerstören, jedoch jenen Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Dabei finden sich solche scharfen politischen Auseinandersetzungen nicht nur in den USA. Auch in Deutschland stellt sich die Frage, ob es möglich und notwendig ist einen konstruktiven Ton zu wahren, wenn von den politischen Gegnern Begriffe wie „Ökodiktatur“ oder „Stasi-2.0“ genutzt werden oder auf Demonstrationen Galgen-Nachbildungen mit dem Namen „Merkel“ daran zu sehen sind.

Dabei sind solche Auseinandersetzungen kein Spezifikum westlicher Demokratien: Rund um das Jahr 2006 registrierten die Behörden im Irak, damals seit wenigen Jahren eine Demokratie, eine Häufung von Anträgen zur Namensänderung. Sunnitische Familien änderten in großer Zahl ihre Namen. Der Hintergrund: Schiitische Milizen hatten wiederholt Straßensperren errichtet und Menschen erschossen, deren Pässe Namen enthielten, die in ihren Ohren sunnitisch klangen. Der eigene Vorname, der Unterschied zwischen Omar und Ammar, wurde somit für jene, die in so eine Straßensperre gerieten, mit einem Mal zu einer Frage von Leben und Tod.

Die drei Beispiele (Deutschland, USA, Irak) scheinen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. In einem Fall handelt es sich scheinbar nur um eine Parteizugehörigkeit oder -affinität, beim anderen um politische Meinungen zu einem Einzelthema und beim dritten um brutale Morde mit politischen und kulturellen (und eventuell religiösen) Hintergründen. Alle drei Beispiele sind jedoch Eskalationsstufen der gleichen Dynamik (und damit eventuell auch unterschiedliche Eskalationsstufen von Kulturkämpfen), die Amartya Sen als Entstehung „kriegerischer Identitäten“ (2007) bezeichnet: Zuerst werden Menschen auf ein oder zwei Einteilungsschemata reduziert. Dies hat zur Folge, dass das eigentlich vielschichtige Geflecht unterschiedlicher Gruppenmitgliedschaften (Nationalität, Gender, politische Partei, Religion, Ethnie etc.), die jeder Mensch besitzt, durchschnitten wird. Sind aber erst einmal ein Großteil der Gemeinsamkeiten gekappt, ist es deutlich einfacher Menschen (auch gewaltsam) gegeneinander zu positionieren. Darin liegt die ironische Stärke dieser Freund-Feind-Rhetorik: Sie schweißt die eigene Gruppe stärker zusammen. Dies bewirkt gleichzeitig eine großen Druck zur Homogenisierung dieser Gruppe. Wer sich dem nicht beugt, kann schnell von einem Freund zu einem Feind werden. Dies ist in den Querelen nach der US-Wahl von 2020 zu beobachten, wo selbst Republikaner*innen, die die Wahlgesetze anwenden und sich nicht den Verschwörungserzählungen von Präsident Trump anschließen, von den eigenen Anhängern mit dem Tod bedroht werden.

Grundsätzlich gilt: Dort, wo Gemeinsamkeiten mit Anderen bedeutsamer eingeschätzt werden als die Unterschiede, sinkt das Gewaltpotential deutlich ab. Dort wo keine oder kaum Gemeinsamkeiten gesehen werden, nimmt das Gewaltpotential zu. Mögliche Gemeinsamkeiten schwinden, wenn nur noch ein oder zwei Gruppenmitgliedschaften darüber entscheiden, wer Freund oder Feind ist.

Das Potenzial zur Gewaltreduktion muss dabei nicht erst aufwändig konstruiert werden. Identitäten greifen immer auf die Mitgliedschaft in verschiedenen Gruppen zurück (Margalit/Raz 1990). Sei es Parteimitgliedschaft, Beruf oder auch die Mitgliedschaft in einem Fußballclub, Menschen werden immer durch zahlreiche Gruppenmitgliedschaften geprägt, die auf komplexe Weise miteinander verwoben sind:

Unter „Gruppe“ wird hier erst einmal als Bezeichnung für eine Anzahl von Menschen genutzt, die mindestens eine gemeinsame Eigenschaft besitzen. Menschen können selbst eine Gruppe gründen oder einer Gruppe beitreten, wie zum Beispiel einem Verein oder einer Partei. Sie können aber auch von anderen einer Gruppe zugeordnet werden. Dabei ist die Abgrenzung nicht immer trennscharf. Denn nicht jeder Beitritt ist ein Akt der Selbstbestimmung. Gleichzeitig wird nicht jede fremde Zuteilung als negativ oder übergriffig betrachtet. Beispielsweise akzeptieren oder begrüßen viele Menschen Fremdzuteilungen wie Gender oder Staatsangehörigkeit sogar, obwohl sie im Moment der Einteilung keinen Einfluss darauf hatten. Sie nehmen die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen als positiven Teil der eigenen Identität wahr, während andere diese Zuteilung als große Belastung oder Zwang empfinden.

Zudem werden Gruppenmitgliedschaften, sowohl von den Mitgliedern als auch von außen, als unterschiedlich bedeutsam angesehen. Dies gilt auch für Mitglieder der gleichen Gruppe. So ist für die einen die Parteizugehörigkeit Mittelpunkt der Lebens- und Karriereplanung, für die anderen eine Mitgliedschaft, die nur noch auf dem Papier besteht. Das gleiche gilt für Fragen der Religion oder Stammeszugehörigkeit. Die Intensität und Bedeutung einer Gruppenmitgliedschaft, gewählt oder nicht gewählt, muss dabei nicht konstant bleiben. So konnte zum Beispiel die Namensgebung im Irak schon immer einen Hinweis auf Herkunft und Stammeszugehörigkeit enthalten. Die Bedeutung dieser Zuordnung unterscheidet sich jedoch deutlich über die Zeit und wird in dem Moment in dem ein Mensch in die beschriebene Straßenblockade gerät zur einzig entscheidenden Frage zwischen Leben und Tod.

Zwei Punkte sind in diesem Sinne entscheidend: Erstens gehören Menschen nie nur einer einzelnen Gruppe an. Sie sehen sich als Teil von Nationen, Vereinen, politischen Ausrichtungen, Familien, Sippen etc., die sie teils mit den gleichen, teils mit je anderen Menschen teilen. Dadurch entsteht gleichsam ein Geflecht aus Gruppenmitgliedschaften, das die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft verbindet und das Gewaltpotenzial mindert. Zweitens setzt eine Freund-Feind-Rhetorik darauf einzelne Merkmale in den Vordergrund zu stellen und alles andere dahinter verblassen zu lassen: Demokraten vs. Republikaner, „Schlafschafe“ vs. „Covidioten“, „brauner Sumpf“ vs. „Ökodikatoren“, Sunniten vs. Schiiten. Eine Facette einer Persönlichkeit wird zur Grundlage einer Beurteilung bzw. Verurteilung der gesamten Person herangezogen.

Das bringt uns zurück zum Anfang und dem Argument, dass die Gegenrede gegen eine Freund-Feind Rhetorik wichtig ist. So ist es eines der großen Fortschrittsversprechen moderner pluralistischer Demokratien, dass Menschen nicht Chancen oder Rechte gewährt oder verwehrt werden, weil sie einem bestimmten Gender oder einer Religion angehören, einen bestimmten Vornamen haben oder einer bestimmten politischen Gesinnung folgen. Die Freund-Feind-Rhetorik gefährdet diese Entwicklung, da sie die Komplexität menschlicher Identität reduziert, Verbindendes in den Hintergrund drängt und somit, in letzter Konsequenz, Gewalt Vorschub leisten kann. Dies zurückzuweisen bedeutet nicht, dass scharfen Debatten unmöglich würden, im Gegenteil, sie sind notwendig. Sie müssen jedoch stets auf Inhalte, Positionen, Argumente und dahinter liegende Wertkonstellationen abzielen. Vertreter*innen einer pluralistischen Demokratie müssen sich in diesem Sinne um eine reflektierte Nutzung der eigenen politischen Sprache bemühen. Daher ist Joe Biden, in diesem Punkt, vorbehaltlos zuzustimmen: Politische Gegenspieler mögen Gegner sein, sie sind jedoch keine Feinde und sollten nicht zu diesen gemacht werden.

Kurz-ink zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/199747
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Margalit, Avishai; Raz, Joseph, 1990: „National Self-Determination“, in: „Journal of Philosophy”, Volume 87, S. 439-461.

Sen, Amartya, 2007: „Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“, München.