International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Autismus-Repräsentation in Videospielen

von Markus Spöhrer

11.07.2023 · “As someone who has autism, I am offended. This is nothing like what it feels having autism”. Mit diesen Worten reagierte ein(e) Spieler*in auf Auti-Sim (Hyper Hippo Entertainment, 2013), ein Videospiel, das die sensorische Überforderung (Hypersensitivität) simulieren soll, die autistische Kinder in sozialen oder Alltagssituationen (vermeintlich) erfahren. Das während des Hacking Health Vancouver Hackathon entwickelte Game zählt zu den ersten Beispielen der Videospielgeschichte, in denen Spieler*innen in die Haut eines autistischen Avatars schlüpfen. Ziel des Spiels ist es, den Avatar durch einen Spielplatz zu manövrieren, auf dem eine Horde gesichtsloser Kinder eine Kakophonie von immer lauter werdenden Störgeräuschen produziert – Geschrei, Kinderreime, Gelächter –, während sich das Sichtfeld der Spieler*innen immer weiter verzerrt und grobkörniger wird. Der intendierte Effekt wird schnell ersichtlich: Es wird vermittelt, dass es als autistisches Kind in der Umgebung Gleichaltriger nicht auszuhalten und die einzige Lösung die Flucht vor dem „„Horror“ ist.

Wie weitere Kommentare auf der Herstellerseite des Games sowie Reviews und wissenschaftliche Publikationen[1] verdeutlichen, bringt dieses Spiel eine Reihe von ethischen Problemen mit sich, die bereits für die filmische/literarische Repräsentation von Autismus geltend gemacht wurden:[2] Zum einen kann Autismus bzw. können seine spezifischen Charakteristika sehr individuell ausgeprägt sein. Die Annahme, dass für jede(n) Autist*in jede soziale Situation mit gewissem Geräuschpegel vergleichbar mit einem „horror game“ ist, reduziert das autistische Spektrum auf Hypersensitivität. Durch die Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der Spieler*innen bzw. des Avatars wird suggeriert, dass es keine Möglichkeit gibt, dem Zwang des sich Aussetzens einer qualvollen Situation zu ‚umgehen‘ – außer durch Flucht. Dies kann von den Spieler*innen bewerkstelligt werden, indem Sie die WASD-Tasten der Tastatur entweder nicht betätigen, oder den Avatar am Spielplatz vorbei bzw. mitten durch zur anderen Seite manövrieren. Diese Eindimensionalität der Handlungsmacht schließt konsequenterweise die vielseitigen ‚work arounds‘, die Individuen für derartige Situationen entwickeln, aus – z.B. das schlichte Aufsetzen eines noise cancellation-Kopfhörers. Zum anderen lässt sich die Verallgemeinerung und Abstrahierung individueller Wahrnehmungsspektren auch bei der inszenierten ‚Gesichtsblindheit‘ des Avatars von Auti-Sim wiederfinden, indem das Spiel die Gesichter der anderen Kindern unkenntlich macht und die Spieler*innen-/Avatarperspektive somit erheblich einschränkt. Dies korrespondiert mit dem aus verschiedenen Filmen bekannten Stereotyp, dass Menschen auf dem Spektrum Wesens- und Gesichtszüge, Emotionen sowie andere individuelle Charakteristika nicht erkennen oder sogar die Gesellschaft anderer Menschen nicht genießen könnten. Wie der ständig sozial aneckende Sheldon Cooper, der zum ‚comic relief‘ in der Sitcom The Big Bang Theory die Nähe zu seinen Freunden verweigert, wird die Spielerin dazu gedrängt, diese körperlich und psychisch unangenehme Situation schnellstens zu verlassen. Ebenso wie bei einer ‚neurotypischen‘ Person ist das Verhalten in sozialen oder sensorisch unangenehmen Situationen für Autist*innen jedoch eine Frage des individuellen Umgangs mit diesen, den persönlichen Erfahrungen und Strategien und der je spezifischen psychischen und sensorischen Charakteristika. Wie ein(e) Reviewer*in zu Auti-Sim bemerkt, vermittle das Spiel hingegen, dass Autismus eine physische Behinderung sei und mit Hilflosigkeit und sozialer Abgrenzung einhergehe.

Ein weiterer, mittlerweile häufiger an medialen Darstellungen kritisierter Punkt ist das Design autistischer Charaktere ohne Einbezug derer, die sich als Betroffene identifizieren, was vermutlich in eben jener Stereotypisierung mündet. Im Falle des Auti-Sim-Entwicklers Taylan Kadayifcioglu, der sich schließlich ebenfalls kritisch zu seinem Projekt geäußert und teilweise distanziert hat, war das Ziel, über die ‚Krankheit‘ aufzuklären und bei den neurotypischen Spieler*innen Mitgefühl zu evozieren. Wie oftmals im Kontext der Disability Studies erörtert, sind derartige ‚ableistische‘ Perspektiven von ‚außen‘ jedoch eher hinderlich für die Herstellung eines ausgewogenen, positiven oder individualistischen öffentlichen Bildes von Autismus, da ihnen nicht nur eine Defizitärlogik zugrunde liegt, sondern ebenfalls eine Mitleidslogik eingeschrieben ist, indem die Charakteristika von autistischen Individuen auf ein (unrealistisch) eng definiertes Krankheitsbild reduziert werden. Taylan Kadayifcioglus Intention war hierbei, die Spieler*innen sensorisch hochgradig zu reizen, was durch die Rezeptionshaltung einiger Reviewer*innnen bestätigt wurde und in Mitleidsbekundungen für autistische Personen mündete. Wie die Kommentarleiste auf der Homepage des Spiels jedoch ebenfalls zeigt, gibt es einige Betroffene, die sich zwar teilweise mit der im Spiel repräsentierten Situation identifizieren können, dies aber konsequenterweise auf ihre persönlichen Wahrnehmungscharakteristika beziehen. Dies verdeutlich umso mehr, dass eine Verallgemeinerung dessen, was ein(e) Autist/Autistin in seinem/ihrem Lebensalltag erfährt, keine angemessene Repräsentation darstellen kann. Ebenso wie die (sensorische) Wahrnehmung der Spielplatzsituation in Auti-Sim je nach Spieler*inerfahrung divergieren kann, ist die Wahrnehmung und der Umgang mit Autismus in Alltagssituationen grundsätzlich individuell. Zudem handelt es sich bei Betroffenen in der Regel nicht um namenlose Typen ohne Eigenschaften, die lediglich (qualvolle) ‚Symptome‘ aufweisen und auf diesen ihre gesamte Identität gründen.  Ian Hacking schreibt dazu: “It is now a standard maxim, in many autism communities, that ‘if you know one person with autism, you know one person with autism.’ Within the autistic spectrum, there is a vast range of individuals”[3].

Die Bestrebungen von Spiele-Entwickler*innen, Awareness für Autismus zu generieren, gleichzeitig inklusorisch und aufklärerisch zu wirken und dabei nicht die Individualität von Betroffenen aus den Augen zu verlieren, manifestieren sich allmählich allerdings durchaus vereinzelt in Independent Games und mitunter auch kommerziellen Mainstream Games. So antwortet der recht populäre Charakter Whitney Wells im erfolgreichen Mobile Game Lily’s Garden (2019) in Episode 192 auf ihre entsprechende Diagnose: „That’s a relief“. Ihren erstaunten Freundinnen, die sie trotz oder aufgrund ihrer Spezialinteressen als Mitglied ihrer Truppe schätzen, erklärt sie schließlich:

And yes, I am happy about this! I’m very smart, you know? I understand many things. But what I’ve never understood is people. I try so hard to connect, and communicate, and I fail over and over... Now I know there’s a reason WHY. It isn’t because I haven’t worked hard enough. Or been clever enough. That’s a huge relief. I can set down the tools I’ve been using and learn to use new ones!

Diese euphorisch-affirmative Repräsentation generiert zwar einen blinden Fleck für real-soziale Konflikte oder Probleme und reproduziert durchaus auch Stereotype – Whitney wird vom Hersteller Tactile Games als hyperintelligenter, „quirky“ (schrulliger) Nerd beworben (vergleiche Sheldon Cooper). Whitney wird in Lily’s Garden zum Beispiel gezeigt, wie sie komplexe mathematische Formeln oder Rätsel mit Leichtigkeit löst und zudem ein fotografisches Gedächtnis besitzt. Dieses Motiv der „Inselbegabung“ wird häufig in filmischen Darstellungen von Autismus als einerseits beneidenswerte, aber andererseits sozial isolierende Charaktereigenschaft ausgestellt und als Element des „Othering“ funktionalisiert, wie im  Falle des Films Rain Man (Barry Levinson 1988). Dem Spiel kann dennoch zugutegehalten werden, dass es Akzeptanz hinsichtlich Whitneys autistischer Charakteristika repräsentiert, sie in einer individuellen Lebenssituation verankert und weder eine Defizitär- noch eine Mitleidslogik implementiert. Zudem wird Whitney als in einer harmonischen romantischen Beziehung—mit alltäglichen und ganz neurotypischen Problemen—gezeigt und fungiert trotz ihrer Macken als fester Bestandteil ihres Freundeskreises. Allerdings ließe sich an die Repräsentation der autistischen Withney auch eine Diskussion anschließen, die nach der „toxic positivity“ des Spiels fragt ­– also den vermeintlich unrealistischen und möglicherweise schädlichen Implikationen, die eine derartig hyperaffirmative Haltung zu Autismus in der öffentlichen Wahrnehmung mit sich bringen kann.

Schließlich scheint als Bewertungs- und Designgrundlage für autistische Charaktere eine Aussage trefflich zu sein, die den Titelbildschirm des Games An Aspi Life (EnderLost Studios, 2019) ziert: „No two people see the world the same way“. In dieser Hinsicht ließe sich als Richtlinie formulieren, die Individualität und Vielschichtigkeit autistischer Charaktere hervorzuheben und auf Charakterhülsen zu verzichten, die lediglich zur Symptomansammlung dienen und für eine Defizitärlogik funktionalisiert werden. Dies bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass ein hyperpositives Bild autistischer Charaktere gezeichnet werden muss. Der Verzicht auf ein Othering durch die Zuschreibung eines Krankheitsbildes bedeutet nicht gleich, dass autistische Charaktere keine ‚menschlichen Mäkel‘, Alltagsprobleme oder zwischenmenschliche Konflikte haben dürfen. Wie die Kritik zu Auti-Sim zeigt, ist es zudem sinnvoller (oder ‚realistischer‘), den Spieler*innen diverse Handlungsmöglichkeiten anzubieten, anstatt einen Handlungspfad zu forcieren, der letztendlich ein Scheitern impliziert oder eine gewisse Rezeptionshaltung evoziert (z.B. die Flucht vor der sozialen Situation, die Mitleid erregt). Letztendlich sind (soziale, körperliche, sensorische oder kognitive) Herausforderungen die Grund- und Ausgangslage vieler digitaler Spiele, die durch die Spieler*innen/Avatare auf bestimmte, oftmals individuelle Weise zu bewältigen sind. Wieso sollten diese Bedingungen nicht ebenso auch für autistische Avatare gelten?   

 

[1] Z.B. Gibbons, Sarah: Disability, neurological diversity, and inclusive play: An examination of the social and political aspects of the relationship between disability and games. In: Loading, 9(14), 2015, S. 25-39.

[2] Siehe Hacking, Ian: How we have been learning to talk about Autism. A role for stories. In: Metaphilosophy, 40(3-4), 2009, S. 499-516.

[3] Hacking, Ian: How we have been learning to talk about Autism. A role for stories. In: Metaphilosophy, 40(3-4), 2009, S. 499-516, hier: S. 503.

 

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