International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Intuitionen in der ethischen Urteilsbildung – hilfreich oder irreführend?

von Cordula Brand

05.03.2024 · Moralische Probleme begleiten unser Leben. Wir haben sowohl in unseren privaten Beziehungen, als auch am Arbeitsplatz und innerhalb der Gesellschaft, in der wir leben, damit zu kämpfen. Wir müssen immer wieder entscheiden, wie wir in problematischen Situationen handeln sollen und haben oft keine Zeit lange zu überlegen, was das moralisch Richtige ist. Eine Eigenschaft solcher Entscheidungen ist meist, dass wir in der aktuellen Situation zunächst gar nicht konkret begründen können, warum wir genau so und nicht anders gehandelt haben. Eine andere Eigenschaft ist, dass solche intuitiven Entscheidungen anfällig für Vorurteile und Widersprüche sind, die – wenn überhaupt – erst im Nachdenken über unser Handeln als solche erkannt werden.

Unsere moralischen Intuitionen leiten aber nicht nur unser situatives Handeln, sie spielen ebenfalls eine Rolle, wenn wir über moralische Fragen nachdenken, nach guten Gründen für unser Handeln suchen und mit anderen Personen über solche Fragen sprechen. Soll die Sterbehilfe gesetzlich neu geregelt werden? Wessen Rechte können in einer Pandemie eingeschränkt werden? Sollen wir der Ukraine mehr Waffen liefern? Diese Fragen werden in unserer Gesellschaft kontrovers diskutiert. Ein Grund dafür, warum diese Debatten teilweise so hitzig geführt werden, liegt darin, dass den jeweiligen Positionen entgegengesetzte moralische Überzeugungen, oder eben Intuitionen, zugrunde liegen. Solche gegensätzlichen Intuitionen erschweren dann den Weg zu einem Konsens oder einem Kompromiss.

Moralische Intuitionen sind also Teil der moralischen Urteilsbildung und entsprechend ein Untersuchungsgegenstand der Ethik, der methodologischen theoriegeleiteten Auseinandersetzung mit moralischen Fragen. Und, wie kann es anders sein, man ist sich in der akademischen Ethik seit hunderten von Jahren nicht einig darüber, welche Rolle Intuitionen bei der Begründung ethischer Urteile spielen oder spielen sollten. Zudem wird der Begriff „Intuition“ nicht einheitlich gebraucht, was die Diskussion nicht gerade erleichtert.

Um sich in diesem Wald der Theorien orientieren zu können, hilft eine erste Unterscheidung schon einmal weiter. Wir können darüber reden, wann und wie wir üblicherweise moralisch intuitive Entscheidungen treffen. Das ist eine deskriptive, psychologische Fragestellung, die anhand empirischer Studien untersucht wird. Diskutiert wird hier vor allem die von David Kahnemann entwickelte Form der so genannten „Dual Process Theorie“ oder „Theorie der zwei Systeme“, die er in seinem Beststeller „Thinking Fast and Slow“ (2011) prominent auf ökonomische Entscheidungen anwendet. Joshua Greene überträgt diese Überlegungen in „Moral Tribes“ (2014) auf moralisches Handeln. Unterschieden werden hier zwei verschiedene Prozesse unseres Denkens: eine schnelle, automatische, eher unbewusste, intuitive Art (System 1) und eine langsame, aufwändige, bewusste, eher rationale Art (System 2). Heißt: wenn wir schnell entscheiden müssen, machen wir das intuitiv, wenn wir Zeit haben, können wir über moralische Entscheidungen nachdenken.

Wir können aber auch darüber reden, wann eine Entscheidung eine gute bzw. eine gut begründete moralische Entscheidung ist. Das ist eine normative ethische Fragestellung, die wir nicht mit Hilfe empirischer Studien entscheiden können. Wie können wir die unseren Entscheidungen zu Grunde liegenden moralischen Überzeugungen und die daraus entwickelten Argumente rechtfertigen? Dafür gibt es in der ethischen Theorie drei mögliche Antworten. Eine Antwort gibt der Skeptizismus: wir können unsere moralischen Überzeugungen überhaupt nicht rational rechtfertigen. Also sollten wir aufhören davon auszugehen, dass moralische Urteile richtig oder falsch, überprüfbar oder widerlegbar sind, denn es gibt kein moralisches Wissen. Wen das nicht überzeugt, z.B. weil man Folter oder Menschenhandel tatsächlich für moralisch falsch hält, für den oder die gibt es zwei Möglichkeiten dem Skeptizismus entgegenzutreten. Der Kohärentismus hält moralische Überzeugungen dann für gerechtfertigt, wenn sie sich widerspruchsfrei in ein Netz anderer Überzeugungen einfügen lassen, die sich gegenseitig stützen, also kohärent sind. Der Intuitionismus argumentiert, dass sich einige grundlegende moralische Überzeugungen ausmachen lassen, die ohne weitere Begründungen gerechtfertigt sind, weil alle Beteiligten intuitiv wissen, dass diese Überzeugungen wahr sind. In dieser Variante der Befürwortung moralischen Wissens spielen Intuitionen also eine im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Rolle: sie sind die eigentliche Begründung.

Für den Kohärentismus oder den Intuitionismus ist es also möglich, gerechtfertigte moralische Entscheidungen zu treffen, die sich begründen lassen. Für die Auseinandersetzung mit konkreten moralischen Konfliktsituationen und den Ausblick auf eine möglichst gute Lösung ist das eine gute Nachricht. Für den Prozess der Entscheidungsfindung auf dem Weg zu moralisch guten Lösungen gibt es in der anwendungsbezogenen Ethik zahlreiche Modelle ethischer Urteilsbildung, die in verschiedenen Praxisfeldern entwickelt wurden und z.B. unter dem Stichwort „ethische Fallbesprechung“ zu finden sind. Sie basieren alle auf der Schlussform des praktischen Syllogismus und verbinden demnach empirische Aussagen und Situationsbeschreibungen mit moralischen Werten und Prinzipien zu einem moralischen Urteil. Unterschiede machen die Modelle vor allem bei der Festlegung verschiedener Zwischenschritte und in der Reihenfolge und Wahl der Abwägungsinstrumente bei Normenkollisionen und Wertkonflikten.

Wie in allen komplexen Entscheidungsfindungsprozessen, das zeigen uns psychologische Studien, spielen unsere Alltagsintuitionen – hier sind nicht die fundamental begründenden Intuitionen von vorhin gemeint – auch bei moralischen Entscheidungen und Prozessen ethischer Reflexion eine Rolle. Einige Hinweise darauf, welche Rolle dies sein könnte, finden sich z.B. in Regina Ammicht Quinns Überlegungen zum „Wert der Bildung“ [1], in dem sie ethische Reflexion als einen Grundbestandteil gesellschaftlicher Bildung ausweist. Sie spricht besonders zwei Fähigkeiten an, die im Rahmen der ethischen Bildung eine Rolle spielen und mit intuitivem Wissen verbunden sein könnten: „Die Fähigkeit, ein Problem als ein auch moralisches Problem zu identifizieren“ (S. 27, Hervorhebung im Original). Intuitionen können unsere Fähigkeit stärken, moralische Probleme zu erkennen, indem wir mit ihrer Hilfe einen Eindruck von „hier stimmt etwas nicht“ bekommen können.

Diese Funktion des „hier stimmt etwas nicht“ ist nicht nur zur Initiierung ethischer Reflexion hilfreich, sondern auch während der einzelnen Schritte selbst, so zum Beispiel als eine Art Marker für problematische, konfligierende Wert-Konstellationen. Außerdem starten wir bei der Zusammenstellung der in Konflikten oder moralisch anderweitig problematischen Situationen beteiligten Werte zunächst mit einer intuitiv geleiteten Sammlung, die es dann gilt, kritisch zu reflektieren. Intuitionen, um es kurz zu machen, dienen sowohl als Ausgangsbasis von ethischen Überlegungen als auch als eine Art Leitplanke für Urteilsbildungsprozesse. So bringen uns mögliche kontraintuitive Konsequenzen eines Urteils z.B. dazu, dieses zu verwerfen.

Diese Überlegungen lassen viele Fragen offen. So ist nicht geklärt, wie sich verlässliche von unzuverlässigen Intuitionen unterscheiden lassen. Ebenfalls unklar ist, ob sich unsere Intuitionen gezielt schulen lassen und wenn ja, welche Intuitionen gestärkt werden sollten und welche nicht. Hier bedarf es weiterer empirischer und epistemologischer Forschung. Beantwortet ist die Frage, und dabei helfen die Überlegungen von Regina Ammicht Quinn, ob es bei moralischen Urteilen auf unsere Vernunft oder auf unsere Intuitionen ankommt: es braucht eben beides.

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[1] Ammicht Quinn, Regina (2007): Vom Wert der Bildung. In: Regina Ammicht Quinn et.al, Wertloses Wissen? Fachunterricht als Ort ethischer Reflexion. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 17-29.

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