International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Pluralismus leben

von Marcel Vondermaßen

14.05.2024 · Rechtsextremen und rechtspopulistischen Gesellschaftsentwürfen wird in der deutschen Debatte selten zuerkannt, dass sie ein Sinnangebot machen, das viele Menschen nicht nur als attraktiv, sondern auch als schlüssig und stimmig bewerten. Menschen, die sich hinter entsprechenden Führungsfiguren und ihrer Ideologie versammeln, werden wahlweise als „aus Protest wählende“, „Verführte“ oder gar „Pack“ charakterisiert. Zielführender ist es jedoch, Rechtspopulismus als Verteidigung von Lebensformen zu begreifen (Bescherer 2017). [i]

„Lebensformen,“ schreibt Regina Ammicht Quinn, „wie eine_r lebt – sind Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens. […] Alle Lebensformen sind Lösungen für die Frage nach dem ‚richtigen‘ und ‚guten‘ Leben.“ (Ammicht Quinn, 2017: 116)[ii] Auch Lebensformen, die pluralistische Demokrat*innen mit guten Gründen ablehnen, enthalten Antworten auf die obige Frage. Doch welche ansprechenden Elemente eines guten Lebens finden sich in rechten Lebensformen? Ammicht Quinn nennt zwei Elemente (a.a.O, S. 118):

1) Die Einheitlichkeit von Identitäten (in Bezug auf race[iii], Nationalität, Gesinnung etc.), die ich als Moment der Gleichheit bezeichnen möchte.

2) Die Eindeutigkeit von Identitäten, als Moment der Gewissheit (ein Geschlecht, ein Gender, ein Begehren, eine Nationalität, eine Loyalität, eine Partnerperson).

Hinzufügen möchte ich:

3) Exkludierende Solidarität: Mit jenen (und nur jenen), die sich zu diesen Formen von Gleichheit und Gewissheit bekennen, gilt es solidarisch zu sein.

Über die problematischen Implikationen dieser Gleichheits-, Gewissheits- und Solidaritätsvorstellungen der Rechten wird und wurde viel geforscht (vgl. z.B. Sorce et al. 2022[iv]). Selten liest man jedoch das Zugeständnis, dass sich Menschen positiv auf rechte Lebensformen beziehen und sich in ihnen wohl fühlen können.

Baden im „Wärmestrom“

Waren Sie in den letzten Wochen auf einer Demonstration „gegen Rechts(-extremismus)“ oder „gegen die AfD“? Haben Sie gespürt, wie gut es sich anfühlte, nach all den schmutzigen Details, die die Correctiv-Recherche über das Treffen in Potsdam ans Licht brachte, Flagge zu zeigen? Wie wichtig es war mit Gleichgesinnten zusammenzukommen und ein Zeichen gegen jene zu setzen, die unsere Demokratie aushöhlen wollen?

Oder waren Sie in den letzten Wochen auf einer Demonstration „gegen die Ampel “ oder „gegen die Grünen“? Haben Sie gespürt, wie gut es sich anfühlte, nach all den schmutzigen Details, die die Gesetzgebung der linken Regierung enthielt, Flagge zu zeigen? Wie wichtig es war mit Gleichgesinnten zusammenzukommen und ein Zeichen gegen jene zu setzen, die unsere Demokratie aushöhlen wollen?

Wenn es Ihnen so ging, haben Sie, um eine Kategorie von Ernst Bloch[v] zu interpretieren, den „Wärmestrom“ der politischen Sphäre gespürt, nämlich jene auf die Emotionen und Hoffnungen gerichtete Dimension des Politischen, die sich mit Zahlen und Fakten allein nicht abbilden lässt. Da Emotionen nicht an eine bestimmte Ideologie gebunden sind, können politische Parteien und Ideologien diesen Wärmestrom für sich nutzen.[vi]

Wenn sich Rechtspopulismus und Rechtsextremismus laut Bescherer aber nicht auf Interessenpolitik reduzieren lassen, sondern Lebensformen anbieten, dann haben sie damit Zugriff auf Emotionen, auf ein Wir-Gefühl, auf geteilte Hoffnungen, auf Solidarität und damit auf den „Wärmestrom“ der Politik. Dies wird gestützt durch einen geteilten Wertehorizont (Anstand, Verlässlichkeit, Gesetzestreue, Gemeinschaftssinn etc.; vgl. Priester 2019[vii]) und ist verwoben mit zum Teil jahrhundertealten Narrativen von Reinheit, Tugend und Tradition. Als Lebensform wird diese tagtäglich im Alltag der Menschen millionenfach aktualisiert, neu erzählt und dadurch normalisiert.

Wenn wir diese Analyse akzeptieren, ergeben sich daraus (mindestens) zwei Strategien, rechte Lebensformen zurückzudrängen (die sich nicht gegenseitig ausschließen):

1) Rechte Lebensformen ernsthaft zu diskutieren und auf ihre mangelnde Problemlösungskompetenz und ihren ungenügenden Beitrag zu einem guten Leben hinzuweisen, wie es Bescherer vorschlägt.

2) Pluralismus zu fördern, was ich hier unter dem Stichwort „Doing Pluralism“/ „Pluralismus leben“ skizzieren möchte.

Pluralist*in ist, wer Pluralismus lebt

„Doing Pluralism“ oder „Pluralismus leben“ meint, dass sich die individuelle Verortung als Pluralist*in darin zeigt, wie wir in konkreten sozialen Situationen handeln und sich diese Verortung immer wieder neu beweisen muss. Andersherum formuliert: Wenn wir aufhören in unserem Alltag pluralistisch zu handeln, hören wir auf Pluralist*innen zu sein. Ist Pluralist*in zu sein damit selbst eine Lebensform? Nach der Definition von Jaeggi (2014) wäre eine „Lebensform Pluralismus“ denkbar. [viii]

Doch Jaeggi weist dem Pluralismus eine andere Aufgabe zu (a.a.O.: 448ff.), die ich teile: Der Wert einer pluralistischen Gesellschaft liegt darin, dass sie eine Vielzahl von Lebensformen ermöglicht, die uns jeweils Sinn- und Problemlösungsangebote machen. Sie fußt auf der Überzeugung, dass es nicht die eine einzig richtige, allen anderen überlegene Art zu leben gibt. Pluralismus ist demnach die Bedingung der Möglichkeit für eine Gesellschaft, die auf multiplen Wegen nach den besten Antworten auf die unvermeidlich auftauchenden Probleme und Krisen suchen möchte. Eine pluralistische Gesellschaft ist eine freie Gesellschaft, weil sie anerkennt, dass bestimmte Sinnfragen oder Probleme mehr als eine moralisch zulässige Antwort besitzen können.

Vielen rechten Lebensformen fehlt diese Grundhaltung. Sie propagieren ein Wir-Gefühl auf Grund von Homogenität, Gewissheit und exkludierender Solidarität. Diesem muss positiv entgegengetreten werden. Die Großdemonstrationen gegen rechtsextreme Pläne zur „Remigration“ mögen Akte sein, in denen pluralistisch gesinnte Menschen einander begegnen und helfen, das wichtige Wir-Gefühl zu erleben. Doch für einen „Wärmestrom“ braucht es mehr als eine Geste alle paar Wochen oder Monate. Insbesondere, da die Gruppe der Pluralist*innen naturgemäß heterogen ist. Wir müssen im täglichen Miteinander eine inkludierende Solidarität mit all jenen leben, die unsere pluralistische Grundeinstellung teilen.

„Doing Pluralism“ fordert zudem, an der eigenen Fähigkeit zu arbeiten, Vielfalt und die damit verbundene Unsicherheit und „Unordnung“ auszuhalten (Ambiguitätstoleranz) bzw. mit dem Gewinn an Kreativität und Multiperspektivität produktiv umzugehen (Ambiguitätskompetenz). Das bedeutet, dass Pluralist*innen auch Lebensformen mit Toleranz oder Akzeptanz begegnen, deren Vorstellung eines gelingenden Lebens sich mit der eigenen kaum oder nicht überschneidet.

Diese Heterogenität und Ambiguität werden dem Pluralismus mitunter als Schwäche ausgelegt. Pluralismus wird als eine schwache Überzeugung angesehen, in der antipluralistischen, intoleranten, menschenfeindlichen Ansichten im Namen der Vielfalt zu viel Raum eingeräumt würde. Letztlich würden sich daher illiberale Strömungen gegen das „anything goes“ durchsetzen. Diese Ansichten übersehen, dass es (mindestens) zwei Grenzen gibt, die ein „wehrhafter Pluralismus“ setzen kann: Erstens können Lebensformen ausgeschlossen werden, die selbst dem Pluralismus feindlich gegenüberstehen, also eine oder wenige Lebensformen zur Norm erklären wollen. Dies trifft auf viele der extremeren rechten Gesellschaftsvorstellungen zu. Zweitens muss es für Menschen möglich sein, Lebensformen hinter sich zu lassen, ohne dadurch inadäquaten Schaden zu erleiden. Dieses Kriterium erfüllen zum Beispiel nicht alle Religionsgemeinschaften oder Sekten, es kann aber auch auf Lebensformen wie die heterosexuelle, monogame Ehe zutreffen, wenn alle alternativen Beziehungsformen gesellschaftlich geächtet werden.

Was ein wehrhafter Pluralismus also braucht, sind Pluralist*innen, die nicht hinter jedem Ausschluss eine Ungerechtigkeit vermuten. Denn das Gegenteil ist der Fall: „Auch gerechte Ordnungen entstehen durch Ausschließen und Verwerfen. Das Ausgeschlossene und Verworfene aber ist nicht das, was die Ordnung stört, sondern das, was Gerechtigkeit beschädigt.“ (Ammicht Quinn 2017: 127)

Ein wehrhafter Pluralismus, der die Zustimmung zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Lebensformen schmälert, braucht alle oben genannten Elemente: Klare Kante gegen antipluralistische Gesellschaftsentwürfe, ein deutliches Bekenntnis, dass alle Lebensformen, die dem pluralistischen Grundgedanken entsprechen, in unserer Gesellschaft Platz haben, und letztlich einen „pluralistischen Wärmestrom“, in dem diese Akzeptanz anderer Lebensformen erlebbar und fühlbar wird. Diesen Anspruch mit Leben zu erfüllen ist nicht allein Aufgabe der Politik. Es ist eine Aufgabe des Souveräns, unsere Aufgabe.

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Literatur:

[i] Bescherer, Peter (2017). „Wir sind doch auch eine Minderheit“. Rechtspopulismus als Verteidigung von Lebensformen. Ökumenische Zeitschrift für Sozialethik, Nr. 1 (2017): Sozialethik der Lebensformen, https://doi.org/10.18156/eug-1-2017-art-3 

[ii] Ammicht, Quinn, Regina (2017). Ordnungen und das Außer-Ordentliche. Die Diversität von Lebensformen und Identitäten als Frage der Reinheit. Zeitschrift für Pastoraltheologie, 37. Jahrgang 2017-2, S.115-128, https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/zpth/article/view/2222/2124

[iii] Die Verwendung der englischen Bezeichung „race“ anstatt „Rasse“ wurde gewählt, um darauf hinzuweisen, dass Menschenrassen biologisch nicht existieren, sondern soziale Konstrukte darstellen.

[iv] Sorce, Guiliana et al. (2022). Ekludierende Solidarirät der Rechten. Springer VS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36891-3

[vi] Für Ernst Bloch hing der Erfolg der faschistischen Bewegungen in den 1930er Jahren unter anderem damit zusammen, dass die konkurrierenden politischen Angebote dieses „warme“ Gefühl des Aufgehobenseins nicht bieten konnten.

[vii] Priester, K. (2019). Umrisse des populistischen Narrativs als Identitätspolitik. In M. Müller & J. Precht (Hrsg.), Narrative des Populismus. Erzählmuster und -strukturen populistischer Politik (S. 11–24). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22374-8

[viii] Laute Rahel Jaeggi sollten wir nur von Lebensformen sprechen, wenn zumindest vier Bedingungen erfüllt sind: 1) Es handelt sich um ein Bündel von Praktiken, nicht einzelne Akte, die 2) als kollektive Gebilde nicht nur von Einzelnen gelebt werden, 3) einen „gewohnheitsmäßigen Charakter“ aufweisen und 4) eine bestimmte Art zu leben erwarten. Jaeggi, Rahel (2014). Kritik von Lebensformen. Suhrkamp. S. 77 f.

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