Seminar für Allgemeine Rhetorik

Rede des Jahres

Seit 1998 vergibt das Seminar für Allgemeine Rhetorik die Auszeichnung ‚Rede des Jahres’. Mit diesem Preis würdigt das Seminar jährlich eine Rede, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend beeinflusst hat und als wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Redekultur gelten kann. Kriterien für die Jury sind u.a. inhaltliche Relevanz, Vortragsstil, Elaboriertheit sowie publizistische Wirkung. 

Kriterien

  • Was ist der bemerkenswerte Anlass oder die besondere situative Herausforderung? 
  • Was ist die publizistische Wirkung der Rede? 
  • Wie elaboriert ist die Rede besonders mit Blick auf die gewählte Redegattung? 
  • Wie ist die inhaltliche Relevanz und thematische Akzentuierung der Rede? 
  • Welcher Vortragsstil findet sich inbesondere im Hinblick auf die jeweilige Persönlichkeit?
  • Leistet die Rede einen Beitrag zur Entwicklung der Redekultur in Deutschland?

Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet Prof.Dr. Christian Drosten für die ‚Rede des Jahres 2025‘ aus
 

Tübingen, 12. Dezember 2025

Mit seiner Rede „Wissenschaft ist Freiheit und Pflicht“ vor dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat Christian Drosten ein klares und eindringliches Plädoyer für eine engagierte Wissenschaft formuliert. Mit großem Nachdruck verpflichtet er die Wissenschaft, Freiheit und Demokratie nicht für selbstverständlich zu halten und sich als eine „konstante Stimme in der demokratischen Debatte“ einzubringen. Aber die Rede ist bedeutsam über die Welt der Wissenschaft hinaus, fragt sich der Redner doch, wie wir in einer Welt leben, die das „Bewußtsein für Fakten verloren hat.“

Drosten stand vor einer besonderen situativen Herausforderung im Rahmen der Feierlichkeiten des 100-jährigen Bestehens des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Als Mediziner trat er am 27. Mai 2025 vor zahlreichen Ökonomen auf und damit einer Disziplin gegenüber, die nicht sogleich mit Drostens wissenschaftlicher Heimat in Verbindung gebracht wird. Beide Wissenschaften – Medizin wie Ökonomie – stünden, so Drosten, nicht immer nur „mit beiden Beinen in den exakten Mathematik- und Naturwissenschaften“. Sie müssen stets ihre gesellschaftliche Relevanz reflektieren. Damit war das Programm seiner Rede gesetzt: Wie stehen Wissenschaft und Gesellschaft zueinander? Wie fördert die Gesellschaft die Freiheit der Wissenschaft, wie die Wissenschaft die Freiheit der Gesellschaft? Aus Drostens Sicht kann die Antwort darauf bereits aus dem programmatischen Titel seiner Rede gelesen werden:  „Wissenschaft ist Freiheit und Pflicht“.

Christian Drosten, vielen noch aus der Pandemie-Zeit als verlässlicher Wissenschaftskommunikator bekannt, argumentiert sachlich und stringent, spart unbequeme Wahrheiten dabei jedoch nicht aus. Glaubwürdig wird Drostens nüchtern-sachlicher Stil, der seine Argumente überzeugend hervortreten lässt, durch seine persönliche Integrität. Der Redner Drosten, sein Anliegen sowie sein Stil stellen den Rahmen einer bedeutsamen Rede dar.

Schon der Beginn der Rede lässt aufhorchen: „Die Gesellschaft hat das Bewußtsein für Fakten verloren“, analysiert Drosten. Symptome dieses Realitätsverlustes seien die zunehmende Polarisierung von Debatten, die Personalisierung „von vielschichtigen Sachthemen und – leider auch – allzu menschliche Bestrebungen nach Öffentlichkeit und Opportunität“. Seine Kritik gipfelt in der pointierten Aussage: „Was postfaktische Politiker von sich geben, ist noch nicht einmal falsch, aber dennoch keineswegs richtig“. Konsequenterweise spricht er von einem „vollkommenen Verlust der Orientierung an Fakten“.

Diese Entwicklung äußere sich im Alltag in einer stetigen Erosion wissenschaftlicher und journalistischer Gütekriterien und münde in einer Monopolstellung der „Meinungsmacht“, so Drosten in seiner luziden Argumentation. Auch die Wissenschaft sei vor dieser Meinungsmacht nicht gefeit, was Drosten besonders mit den Zwängen des modernen Wissenschaftssystems plastisch beschreibt. In eingängigen Schlagworten umreißt er, mit welchen drastischen Herausforderungen sich Forschung und Wissenschaft konfrontiert sehen: Leistungsdruck, Selektionsdruck sowie politische Flexibilität und Opportunismus. Dadurch gingen Altruismus, soziale Verantwortung oder Courage verloren – in der Wissenschaft wie in der Gesellschaft.

Die Lösung, die Drosten hierfür anbietet, besteht aber nicht in einem Mehr an Wissenschaft. Wir alle profitierten zwar von den Ergebnissen dieser, doch zeige die Entwicklung in den USA, dass Wissenschaftsfreiheit nicht bedeute, „sich herauszuhalten“ – ganz im Gegenteil: „Ich plädiere heute für ein Nachdenken über den Grundsatz der Wissenschaftsfreiheit – und zwar nicht in erster Linie wegen ihrer Einschränkung! Die Freiheit der Wissenschaft muss auch Verpflichtungen mit sich bringen“. Für seine Forderung ist er selbst ein mustergültiges Beispiel, sieht er doch seine Rolle nicht mehr wie in der Corona-Zeit als bloßer Erklärer, sondern nunmehr als Mahner und engagierte Stimme der Wissenschaft.

Mit Verve fordert er in seinem couragierten Schlussappell von allen Beteiligten im Wissenschaftssystem beherzten Einsatz und Engagement „in der demokratischen Debatte“. Denn auch diese Verantwortung bringe die Wissenschaftsfreiheit mit sich.

Drosten beweist in seiner eindrücklichen Rede, dass Wissenschaft und Gesellschaft keine getrennten Sphären sind, sondern zusammengedacht werden müssen und nur so Freiheit und gesellschaftliches Miteinander vermittelt werden können. In einem couragierten Plädoyer für eine engagierte Wissenschaft adressiert er auch die politisch Verantwortlichen, die „Institutionen der Wissenschaft zu stärken – in ihrem eigenen Interesse und für die Überlebensfähigkeit unserer demokratischen Gesellschaften“. Wissenschaft ist nicht allein Freiheit, sondern auch Pflicht.

Seit 1998 vergibt das Seminar für Allgemeine Rhetorik die Auszeichnung ‚Rede des Jahres‘. Mit diesem Preis würdigt das Seminar jährlich eine Rede, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend beeinflusst hat. Kriterien für die Jury sind u.a. inhaltliche Relevanz, Vortragsstil, Elaboriertheit sowie publizistische Wirkung.

Die Rede im Wortlaut mit Video finden Sie hier:
https://www.diw.de/de/diw_01.c.932545.de/100_jahre_diw/wissenschaft_ist_freiheit_und_pflicht.html (12.12.2025)

Jury:
AR Dr. Jutta Beck, Selina Bernarding M.A., Hanna Broghammer, Dr. Fabian Erhardt, Rebecca Kiderlen M.A., Prof. Dr. Joachim Knape, Prof. Dr. Olaf Kramer, Jonathan Peterseim M.A., Dr. Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till

Die letzten Reden

2025
Christian Drosten: Rede vor dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

Klares und eindringliches Plädoyer für eine engagierte Wissenschaft in Zeiten, in denen die Bezugnahme auf geteilte Fakten unter Druck steht.

2024
Heike Heubach: erste Bundestagsrede in Gebärdensprache

Die Rede wurde am 10. Oktober gehalten und ist ein eindringliches Plädoyer für den Klimaschutz und zugleich ein bewegendes Beispiel einer veränderten politischer Redekultur im Zeichen von Inklusion.

2023
Robert Habeck: Video-Ansprache zu Israel und Antisemitismus

Die Rede wurde am 1. November gehalten und ist ein Musterbeispiel für eine engagierte und bedeutsame politische Rede. Mit Verve und hoher Emotionalität verteidigt Habeck das Existenzrecht Israels und legt damit ein eindringliches Votum für die besondere Verantwortung Deutschlands ab.

2022
Luisa Neubauer: Ansprache auf dem Parteitag der Grünen

Die Rede wurde am 16. Oktober auf dem Parteitag der Grünen gehalten und ist ein aufrüttelndes Plädoyer für eine wirkungsvolle Klimapolitik und ein eindringlicher Aufruf der jungen Generation für Gerechtigkeit und Solidarität in Anbetracht des Klimawandels. 

2021
Maren Kroymann: Dankesrede beim Deutschen Comedypreis

Die Rede wurde am 1. Oktober als Dankesrede für den Ehrenpreis des Deutschen Comedypreises gehalten und ist ein unerwartetes, leidenschaftliches Plädoyer für Gleichberechtigung, in der Kroymann eindringlich den alltäglichen Sexismus kritisiert. Sie ist Zeichen für einen tiefergreifenden gesellschaftlichen Wandel, der sich vor allem durch das Überwinden der Sprachlosigkeit auszeichnet und verschafft der #metoo-Bewegung in der Comedybranche starke Sichtbarkeit.

2020
Angela Merkel: Fernsehansprache zur Coronapandemie

Die Rede wurde am 18. März gehalten und ist als historische Fernsehansprache ein eindrucksvoller Appell an Verantwortung und Miteinander. Sie verbindet die anschauliche Darstellung komplexer wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Empathie und politischer Umsicht.

2019
Ursula von der Leyen: Wahlrede vor dem Europäischen Parlament

Die Rede wurde am 16. Juli gehalten und ist ein eindrucksvolles und glaubwürdiges Bekenntnis zu Europa, ein Beweis für die Integrationskraft der Idee „Europa“ und ein engagiertes Plädoyer für eine europäische Wertegemeinschaft.

2018
Cem Özdemir: Debattenbeitrag im Deutschen Bundestag

Die Rede wurde am 22. Februar gehalten und ist eindrückliches Plädoyer für eine offene Gesellschaft, gegen Ausgrenzung und Spaltung. Die leidenschaftliche Parlamentsrede zeigt, wie man den Populisten im Parlament die Stirn bieten kann.

2017
Peter Strohschneider: Rede auf der Jahresversammlung der DFG

Die Rede wurde am 4. Juli gehalten und ist ein engagiertes Plädoyer gegen populistische Vereinfachungen und alternative Fakten. Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft rechnet in seiner Rede mit den populistischen Strömungen ab und reflektiert kritisch den gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb.

2016
Norbert Lammert: Rede zum Tag der Deutschen Einheit

Die Rede wurde am 3. Oktober in der Dresdner Semperoper gehalten und ist eine besonnene Festrede zur Entwicklung Deutschands inmitten einer meist stürmisch geführten politischen Debatte, während zugleich im Freien der Niedergang Deutschalnds beschworen wird.