International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Akademiker*innen im Aktivismus?

by Matthias Kramm

27.10.2025

Unter Klimawissenschaftler*innen weltweit herrscht ein breiter Konsens darüber, dass die Klimakrise menschengemacht ist und dass dringender Handlungsbedarf für Klimaschutz und Klimaanpassung auf allen gesellschaftlichen Ebenen besteht. Aber ist es gerechtfertigt, dass Akademiker*innen als Akademiker*innen an öffentlichen Protesten gegen die Klimakrise bzw. für eine gerechte Klimapolitik teilnehmen? Oder sollten sie dies – falls gewünscht – ausschließlich in ihrer Rolle als Bürger*innen tun und somit ohne sichtbare wissenschaftliche Insignien wie Laborkittel oder Robe? Diese Frage ist durch Gruppen wie Scientists4Future und Scientist Rebellion stets aktuell und erhält durch die jüngsten Entwicklungen in den USA, in denen Klimawissenschaftler*innen zur Zielscheibe staatlich organisierter Diskriminierung werden, neue Brisanz.

Mitglieder von Scientist Rebellion haben in der jüngeren Vergangenheit an der Blockade von Brücken teilgenommen, haben an Flughäfen Aktionen durchgeführt und öffentliche Mahnwachen abgehalten. Teil vieler Aktionen war das sogenannte „Paper Pasting“, bei dem wissenschaftliche Artikel zur Klimakrise an Gebäude, Fenster oder Türen von öffentlichen Gebäuden angebracht wurden. Mitglieder von Scientist Rebellion treten dabei häufig im Laborkittel auf, um ihre Identität als Akademiker*innen sichtbar zu machen. Etwas anders verhält es sich da bei Scientists4Future, deren Mitglieder sich oftmals eher in der wissenschaftlichen Beratung von Aktionsgruppen wie Fridays4Future engagieren und Wissenschaftskommunikation priorisieren. Zugleich treten auch Mitglieder von Scientists4Future zunehmend mit Warnwesten und Logos auf, auf denen ihre Zugehörigkeit sichtbar wird. Ein jüngeres Beispiel dafür war die Teilnahme der S4F-Regionalgruppe Tübingen an der Nacht der Nachhaltigkeit 2025, bei der sie mit einer „Klimasprechstunde“ vertreten war.

Dabei lässt sich fragen, in welcher Rolle Akademiker*innen eigentlich bei aktivistischer Betätigung agieren dürfen: Als Staatsbürger*in oder als Akademiker*in? Im ersten Fall bleibt es fraglich, ob sich eine strenge Trennung zwischen Akademiker*in und Bürger*in durchhalten lässt, insbesondere in Anbetracht dessen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und wissenschaftliche Forschung immer auch in einen gesellschaftlichen und politischen Kontext eingebettet sind. Zudem ist es problematisch, wenn Personen gezwungen sind, sich in eine*n Wissenschaftler*in und eine*n Staatsbürger*in aufzuspalten. Zweifelt man aber an, dass sich die beiden Rollen im Aktivismus sauber voneinander trennen lassen, und verteidigt die Position, dass Akademiker*innen durchaus als Akademiker*innen an öffentlichen Protesten teilnehmen dürfen, so findet man sich schnell mit den beiden Argumenten konfrontiert, dass (1) eine aktivistische Betätigung die eigene akademische Integrität untergräbt, und (2) eine solche Betätigung in vielen Fällen eine Überschreitung der eigenen Kompetenzen bzw. Expertise bedeuten würde.

Allerdings betrachten die beiden Gegenargumente Wissenschaftler*innen primär als Individuen und konzentrieren sich auf Integrität und Expertise dieses Individuums. Gegenüber dieser individualisierenden Betrachtungsweise hat Thomas Fossen jüngst einen gemeinschaftsorientierten Ansatz vorgelegt, welcher Wissenschaftler*innen als Teil der „academic community“ begreift. 

Fossen schreibt dabei dezidiert als Wissenschaftler und Aktivist, der sich mit dem öffentlichen Diskurs über akademisches Engagement im Klimaaktivismus auseinandersetzt. Sein Ansatz setzt dabei die folgenden vier Prämissen voraus:

  1. Jede*r Akademiker*in ist Teil der akademischen Gemeinschaft.

  2. Alle Mitglieder der akademischen Gemeinschaft haben die Verantwortung, einander zuzuhören, die Botschaft der jeweils anderen Mitglieder ernst zu nehmen, und darüber nachzudenken.

  3. Es existiert ein breiter, weltweiter Konsens unter Klimawissenschaftler*innen, dass die Klimakrise menschengemacht ist und dass eine große Notwendigkeit besteht, auf allen gesellschaftlichen Ebenen Maßnahmen zum Klimaschutz und zu Klimaanpassung durchzusetzen.

  4. Falls Mitglieder der akademischen Gemeinschaft die Botschaft und Warnung anderer Mitglieder für korrekt erachten, haben sie die Verantwortung, Unterstützung zu mobilisieren, damit diese Botschaft und Warnung Gehör in der Öffentlichkeit findet – insbesondere dann, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit für diese Botschaft und Warnung aktiv von Interessensgruppen untergraben wird.

Aus diesen vier Prämissen folgt laut Fossen, dass Aktivismus von Akademiker*innen als Akademiker*innen (und damit als Teil der „academic community“) für Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung und zur Unterstützung der Botschaft und Warnung der Klimawissenschaftler*innen gerechtfertigt ist.

Dabei setzt er sich auch mit den beiden bereits genannten Gegenargumenten bezüglich akademischer Integrität und akademischer Expertise auseinander. Gemäß Fossens Ansatz ist akademische Integrität durchaus ein wichtiger Wert, bezieht sich aber nicht ausschließlich auf die eigene persönliche Integrität und die Vermeidung von Interessenskonflikten im eigenen akademischen Arbeiten, sondern auf die Integrität und Verantwortung von Akademiker*innen gegenüber der akademischen Gemeinschaft als Ganze. Dass Aktivismus die eigene Integrität untergraben könnte, setzt zudem voraus, dass innerhalb der Wissenschaft Räume bestehen, die gewissermaßen politisch neutral sind und in denen Akademiker*innen forschen könnten, ohne dabei eine politische Linie zu unterstützen. Solche Räume sind angesichts einer Drittmittel-finanzierten Forschung, welche politische Mehrheiten voraussetzt, zweifelhaft. Ebenso ist es zweifelhaft, dass ausschließlich Aktivismus zu „political bias“ in der eigenen Forschung führen muss. „Political bias“ ist ebenso denkbar bei Forscher*innen, welche sich selbst als politisch neutral verstehen und die durch ihren Verzicht auf politische Reflexivität in ihrer Forschung bestimmte politische Positionen unbemerkt reproduzieren.

Durch den Gemeinschaftsbezug von Fossens Ansatz rückt auch die individuelle Expertise als Kriterium in den Hintergrund, da sich Akademiker*innen für ihre Beteiligung an Klimaprotesten auf die Expertise einer Gemeinschaft berufen können. Begründete Zweifel darüber, ob die eigene Expertise ausreicht, um Klimafragen adäquat zu beurteilen, sind angebracht und wichtig. Sie sollten aber nicht davon ablenken, dass in der Klimawissenschaft seit Jahren ein breiter Konsens besteht, auf welchen sich auch fachfremde Kolleg*innen berufen können.

Die Frage von akademischem Aktivismus lässt sich aber noch zuspitzen: Eine spezifische Form des Engagements von Akademiker*innen im Klimaaktivismus besteht darin, dass Akademiker*innen sichtbar, z.B. im Laborkittel, an Protesten und Aktionen teilnehmen, wie es zum Beispiel bei Scientist Rebellion regelmäßig geschieht. Hier wird ein expliziter Aktivismus von Wissenschaftler*innen als Akademiker*innen besonders deutlich und unmittelbar sichtbar. Eine solche Form von Aktivismus würde durch eine Theorie der zwei Hüte in Anlehnung an Habermas, wonach Aktivismus gestattet ist, solange Akademiker*innen transparent machen, dass sie als Staatsbürger*innen tätig sind (und nicht als Akademiker*innen), nicht mehr abgedeckt.

Ein Gegenargument, das sich gegen eine solche Form des sichtbaren Aktivismus formulieren ließe, wäre, dass Akademiker*innen in diesen Fällen eine besondere Form von Autorität für sich in Anspruch nehmen und damit einen Sonderstatus innerhalb der Zivilgesellschaft. Dieser Einwand würde darauf hinauslaufen, dass Akademiker*innen in diesem Fall implizit (oder explizit) beanspruchen, dass ihre Meinung und ihr Urteil mehr zählen sollte als das anderer Bürger*innen.

Fossens gemeinschaftsorientierter Ansatz lässt sich hier allerdings erneut heranziehen, um diesen Einwand – zumindest teilweise – zu entkräften. Laut Fossen bedeutet die Sichtbarkeit von Akademiker*innen nicht notwendigerweise, dass diese eine Sonderrolle innerhalb der Zivilgesellschaft beanspruchen, sondern vielmehr, dass sie ihre Verantwortung innerhalb der akademischen Gemeinschaft zum Ausdruck bringen. Das Tragen eines Laborkittels oder anderer akademischer Insignien (z.B. einer Robe) würde dann lediglich ausdrücken, dass Akademiker*innen sich als Teil einer Gemeinschaft verstehen, und die Botschaft und Warnung ihrer Kolleg*innen aus Umwelt- und Klimawissenschaften aktiv unterstützen. Ansonsten würde weiterhin gelten, dass Akademiker*innen ebenso Teil der Zivilgesellschaft sind wie jeder andere Bürger auch – ohne irgendeinen Sonderstatus.

Einen Punkt, den Fossen leider nicht thematisiert, ist die Frage der Opportunitätskosten von Klimaprotest im Vergleich zu alternativen Weisen, innerhalb der Gesellschaft Unterstützung für Maßnahmen zu Klimaschutz und Klimaanpassung zu mobilisieren. Alternative Strategien wären zum Beispiel das politische oder zivilgesellschaftliche Engagement auf kommunaler Ebene, der Eintritt in eine politische Partei, Politikberatung, oder Klimaschutz-Lobbyarbeit. Während öffentlicher Protest eine wirksame Form der Mobilisierung sein kann, fehlt damit eventuell die Zeit für andere Tätigkeiten, die innerhalb der bestehenden zivilgesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Strukturen stattfinden. Letztlich braucht es eine Vielfalt von Ansätzen, um die Effektivität von Klimaaktivismus zu maximieren.

Kurz zusammengefasst erlegt Fossens gemeinschaftsorientierter Ansatz Akademiker*innen eine besondere Verantwortung gegenüber der „academic community“ auf, die mal mehr und mal weniger sichtbar ist. Zugleich liefert er aber auch gute Argumente dafür, dass sich Akademiker*innen im Aktivismus und in der Klimabewegung engagieren sollten, ohne befürchten zu müssen, dass deshalb ihre wissenschaftliche Integrität in Zweifel gezogen werden könnte oder dass sie unrechtmäßig die Grenzen der eigenen Kompetenz oder Expertise überschreiten. Dieser Protest dürfte dann sowohl in Zivilkleidung als auch im Laborkittel oder in einer Robe geschehen, um im Namen von marginalisierten Mitgliedern der akademischen Gemeinschaft und ihrer Botschaft für öffentliche Unterstützung zu werben.

Anerkennung:
Vielen Dank an Uta Müller für die hilfreichen Kommentare zu diesem Blogartikel und den Hinweis auf Julian Nida-Rümelins Handbuchartikel.

Literatur:
Fossen, Thomas. 2025. ‘Academic Activism and the Climate Crisis: Should Scholars Protest?’ Perspectives on Politics, 1–16.

Nida-Rümelin, Julian. 1996. ‘Wissenschaftsethik’. In: Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. (hrsg. von Julian Nida-Rümelin). Stuttgart: Kröner.

Verovšek, Peter J. 2021. ‘The Philosopher as Engaged Citizen: Habermas on the Role of the Public Intellectual in the Modern Democratic Public Sphere’. European Journal of Social Theory 24 (4): 526–44.

Autor: Matthias Kramm
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