Auf den zweiten Blick: Zur (Un-)Sichtbarkeit von Care
von Katharina Krause
20.02.2024 · Die Pandemie sei “an instrument of truth, a magnifying glass” hat Regina Ammicht Quinn (2021, S. 36) bereits 2020, mitten in der sich entfaltenden COVID-19 Pandemie, festgestellt. Aber was genau sehen wir, wenn wir die Pandemie als Linse, gar als Lupe, nutzen? Auf diese Frage gibt es nicht die eine, umfassende Antwort. Trotzdem, und gerade deswegen, ist sie lohnend. Eine Perspektive, aus der man sich einer Beantwortung der Frage annähern kann, ist die der Care-Ethik.
Im BMBF-Forschungsprojekt Co-Care richten wir diese Lupe auf Care-Dynamiken in der Pandemie und analysieren das Spannungsfeld zwischen der Überlastung, Marginalisierung und Unsichtbarkeit von Care und ihrer gesellschaftserhaltenden Bedeutung. Dieses Spannungsfeld ist nicht neu und mitnichten ein Produkt der Pandemie. Jedoch hat die Pandemie sowohl die Prekarität von Care als auch deren Relevanz auf dramatische Weise verdeutlicht. Im Projekt arbeiten wir mit care-ethischen Ansätzen und verstehen Care breit und umfassend als “species activity that includes everything we do to maintain, continue, and repair our ‘world’ so that we can live in it as well as possible” (Tronto/Fisher, 1990, S. 40). Eine Care-Ethik stellt dabei nicht autonome Individuen, sondern wechselseitige Beziehungsgefüge in den Vordergrund und betont die lebenserhaltende, gar lebensnotwendige, Funktion von Care (Madörin, 2006, S. 283). Um die gesellschaftliche, politische und mediale Verhandlung von Care während der Pandemie zu analysieren, fragen wir unter anderem, wie und wo Care in der Pandemie sichtbar (gemacht) wurde. Dabei ist es interessant, die Frage nach Sichtbarkeit und damit immer verbunden auch der Unsichtbarkeit, wörtlich zu nehmen und zu fragen: Wie sehen wir Care in der Pandemie?
Dieser Blogbeitrag fokussiert mit der Krankenpflege auf einen klassischen Care-Bereich und widmet sich der Frage nach der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Care ausgehend von einem konkreten Beispiel: dem ikonischen Gemälde Game Changer des britischen Streetart-Künstlers Banksy (2020).
Wie sehen wir Care (bei Banksy)?
Banksys Ölgemälde Game Changer wurde Anfang Mai 2020 – während dem ersten Höhepunkt der COVID-19 Pandemie in Europa – im Foyer des Southampton General Hospitals in Südengland aufgehängt. Das 91cm x 91cm große Bild zeigt einen knienden Jungen, der mit einer Spielzeugfigur spielt. Die Figur trägt neben einem Cape eine klassische Krankenschwesterntracht, auf deren Schürze ein rotes Kreuz prangt. Gemeinsam mit der Kleidung verortet das rote Kreuz, das einzige Farbelement in dem ansonsten in schwarzer Farbe auf weißem Grund gemalten Bild, die Figur im Krankenhauskontext. Im deutschsprachigen Diskurs wird sie weitläufig als “Krankenschwester” interpretiert, im englischsprachigen Berichten als “nurse”. Die Maske stellt einen visuellen Bezug zur COVID-19 Pandemie her. In einem Mülleimer neben dem Kind liegen, scheinbar achtlos weggeworfen, zwei weitere Figuren: Spiderman und Batman.
Banksy schenkte sein Gemälde dem Krankenhaus gemeinsam mit der Notiz: “Thanks for all you’re doing. I hope this brightens the place up a bit, even if it’s only black and white”. Bei der Versteigerung im März 2021 erzielte das Gemälde einen Preis von 16,8 Millionen britischen Pfund und ist damit das bisher teuerste Werk Banksys.
Care als Heldentum
Was sagt uns Banksys Werk über den gesellschaftlichen Stellenwert von Care in der Pandemie? Das Gemälde wurde als Posterdruck mit dem Titel “Real Hero” massenhaft verkauft und als “gesellschaftskritische Kunst für Ihre Wände” beworben[1]. Etwas weniger subtil als der ursprüngliche Titel “Game Changer” verweist der neue Titel auf das pop-kulturelle Heldentum, das wir aus Comics und Blockbustern kennen (Nayar 2022). Die berühmten und beliebten Helden liegen im Müll, mit der Krankenschwester als “Real Hero” scheint eine neue Helden-Zeit angebrochen.
Auf den ersten Blick erkennt Banksys Werk, wie von Care-Ethiker*innen immer wieder betont, Care als lebensnotwendige Tätigkeit an (Tronto/Fisher 1990). In der Darstellung der Krankenschwester als Superheldin liegt Wertschätzung, vielleicht gar ein Aufruf zum Ende der Prekarisierung von Care aus prä-pandemischen Zeiten. Schließlich sind (die meist männlichen) Helden, das wissen wir aus zahllosen Hollywood-Blockbustern und Comics, stark, mutig und unverwundbar. Sie sind die Rettung in der Katastrophe.
Aber, spätestens auf den zweiten Blick, sind sie auch – und hier zeigen sich bittere Parallelen zur Arbeits- und Lebensrealität von Pflegekräften – unbezahlt, im gesellschaftlichen Dauereinsatz und, bis auf gelegentliche Sidekicks und Romanzen, meist allein. Schließlich bleibt für Freund*innen und Familie wenig Zeit, wenn man ständig in Verantwortung ist, die ganze Welt zu retten. Außerdem ist das pop-kulturelle, westliche Heldentum neoliberal, durchkommerzialisiert und manifestiert in Merchandise-Produkten. Auch die Heldin in Banksys Gemälde ist nicht nur eine Heldin, sondern eben auch ein Spielzeug, das den Launen des (männlichen) Kindes ausgeliefert ist. In der Ecke, dargestellt durch den Mülleimer mit den abgelegten Superhelden, lauert bereits die Gefahr, nur alsbald vergessen und ersetzt zu werden (Krasny 2023, S.99). Care ist eben nicht nur lebensnotwendig, sondern durchzogen von Abhängigkeitsverhältnissen und Asymmetrien (Villa 2020).
Auf den ersten Blick mag es fortschrittlich anmuten, dass die Figur in Banksys Bild weiblich ist. Schließlich ist das eine willkommene Abwechslung zum immer noch stark männlich dominierten Superhelden-Kosmos. Tatsächlich ist es aber auch beispielhaft dafür, dass Care – im privaten wie auch im professionalisierten Bereich – meist von Frauen übernommen ist. Dass Care oft noch immer mit Weiblichkeit assoziiert wird, ist problematisch “as long as ‘care’ is for women and ‘autonomy’ is for men” (Ammicht Quinn, 2021, S. 39).
Wahrscheinlich unfreiwillig zeigen uns das Werk Banksys und seine Rezeption somit die besondere Prekarität von Care in der Pandemie und regen zum Nachdenken darüber an, wie problematisch ihre Heroisierung ist. Superheld*innen klagen nicht über schlechte Bezahlung und unsichere Arbeitsbedingungen, sie sind niemals müde und potenziell unverwundbar. Es verwundert also kaum, dass vielen Pflegekräften ihre Bezeichnung als Held*innen Sorge bereitete. Nicht nur geht damit eine Romantisierung prekärer Arbeitsbedingungen einher, die Bemühungen um eine bessere Bezahlung erschweren, sie unterstellt den Pflegekräften eine Unverwundbarkeit und Risikobereitschaft, was, gerade in einer Pandemie, (lebens-)gefährlich sein kann. In ihrem Buch “Living with an Infected Planet” (2023) kritisiert Elke Krasny den Superheld*innen-Diskurs aus feministischer Perspektive und zitiert die Pflegekraft Kristie Hill, die sich folgendermaßen von dem Held*innen-Narrativ distanziert: “We are not invincible and when we do say we’re struggling, we’re not believed” (Mitchell, 2021; zitiert in Krasny 2023: S. 102).
Care als Frontarbeit
Von der Heroisierung ist es außerdem ein kleiner Schritt zur Militarisierung. Krasny (2023, S. 100) fasst präzise zusammen: “The pre-pandemic silence around essential work and the cultural and social devaluation of caring labors was replaced by militarized hyper-visibility”.
Dieser Konnex ist nicht neu, wir kennen ihn aus vergangenen Gesundheitskrisen. Das TIME Magazine kürte die “Ebola Fighters” zur “Person of the Year 2014” und porträtierte diese auf fünf verschiedenen Covern. Besonders auffällig und markant ist hier, neben der Verwendung des Begriffs “Fighter” das Porträtbild von Jeremy Brown, das den liberianischen Chirurgen in Ganzkörper-Schutzkleidung mit Schutzanzug, Kapuze, Maske und Sicherheitsbrille zeigt. Die das Cover dominierende Schutzkleidung betont die enormen Risiken der Ansteckung und die körperlichen Mühen, die mit der Behandlung und Versorgung der vom Ebola-Virus infizierten Menschen einhergehen. Der Schutzanzug erinnert hierbei an eine militärische Uniform. Noch stärker wird diese Assoziation von dem Cover des Economist aufgerufen, das mehrere “Ebola Fighter” in Schutzkleidung unter der Überschrift “The War on Ebola” zeigt.
Die Feministin Cynthia Enloe (2020) hat uns bereits zu Beginn der COVID-19 Pandemie vor einem erneuten Rückgriff auf Kriegsmetaphern gewarnt: “in myriad countries and across generations war waging has fueled sexism, racism, homophobia, autocracy, secrecy and xenophobia. None of those will prevent a pandemic. They will never promote trustworthy science and functional medical infrastructures. They will not protect the most vulnerable among us. They will not keep us all safe. They most certainly will not lay the groundwork for post-pandemic democracy.”
Wenn die Pandemie “nicht militarisiert, sondern ‚zivilisiert‘” (Vondermaßen, 2020) werden soll, ist die Heroisierung und die mit ihr einhergehende Militarisierung von Care nicht hilfreich. Viele Pflegekräfte wissen das. Krasny (2023, S. 101) problematisiert deswegen die “necropolitical normalization of death that is characteristic of militaristic and emotionalized reporting on the deaths of health care workers” und zitiert den Arzt David Berger mit den Worten “Please stop calling healthcare workers ‘heroes’. It’s killing us” (Berger, 2020; zitiert in Krasny 2023: S. 102).
Was sehen wir nicht?
Game Changer und die internationale Begeisterung, die das Werk hervorrief, können als Produkte ihrer Zeit gesehen werden. Einer Zeit, in der Care-Arbeit durch gemeinschaftliches Klatschen am Abend für Pflegekräfte und ärztliches Personal einen Moment der punktuellen Sichtbarkeit und performativen Anerkennung erfuhr, die dadurch entstehende Hoffnung auf strukturelle Verbesserungen jedoch enttäuscht wurde.
Es ist jedoch wichtig, nicht nur die Motivik der punktuellen Sichtbarkeit von Care – zum Beispiel als unverwundbare, stets im Einsatz stehende Held*innen – kritisch zu betrachten, sondern auch zu fragen, was wir nicht, beziehungsweise über-sehen.
Weitestgehend unsichtbar in der Pandemie blieben zum Beispiel die Rolle von Reinigungsarbeit (Simon/Villa Braslavsky, 2023) oder die Auswirkungen der Pandemie und ihrer Lockdowns auf andere Formen von Care-Arbeit, beispielsweise im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe. Beide Care-Felder nehmen wir im Projekt Co-Care in den Blick. Was ebenfalls zu großen Teilen unsichtbar ist, ist das, was Berenice Fisher und Joan Tronto (1990) mit Blick auf Care-Arbeit und Care-Beziehungen “care-receiving” nennen. Bei “care-receiving” geht es nicht nur um den Akt des Sorgeempfangens, sondern vielmehr um die Beziehung zwischen sorgender und sorgegebender Person. Mit Blick auf dieses Beziehungsgefüge und die damit verbundenen gegenseitigen Abhängigkeiten betonen Mercer Gary und Nancy Berlinger (2020, S. 57): “the ethics of care must safeguard the cared-for person from neglect and the carer from exploitation.” Die ethische Frage nach ‚guter‘ Care muss also immer auch asymmetrische Machtverhältnisse, Hierarchien und Abhängigkeiten aufzeigen und problematisieren.
Die Frage nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit macht uns sensibel für die Komplexität und häufige Prekarität von Care-Beziehungen. Das “magnifying glass” (Ammicht Quinn, 2021, S. 36) der Pandemie, könnte man deswegen sagen, macht nicht so sehr Care an sich, sondern – auf den zweiten Blick – deren Prekarität und Problematiken sichtbar.
Um zum Schluss noch einmal auf Banksys Game Changer zurückzukommen, muss man der Fairness halber zugestehen, dass es herausfordernd ist, diese Komplexität von Care, wie sie in der Care-Ethik verstanden wird, in einem Kunstwerk abzubilden. Trotzdem bleibt die Feststellung, dass Care im Werk Game Changer, wie von Banksy selbst (wenn auch auf die Farbwahl bezogen) festgestellt wurde, tatsächlich “only black and white” ist.
----------------------------------------------
[1]Siehe zum Beispiel hier: www.wall-art.de/poster/Poster-Banksy-Real-Hero.html.
-----------------------------------------------
Literatur:
Ammicht Quinn, R. (2021): Handle with Care: Fragile Humans, a Pandemic, and the Legacy of the European Enlightenment. In: Jeevaadhar. Nr. 301, S. 26–40.
Berger, D. (2020): Please Stop Calling Healthcare Workers ‘Heroes’. It’s Killing Us. In: The Sydney Morning Herald. URL: www.smh.com.au/national/please-stop-calling-healthcare-workers-heroes-it-s-killing-us-20200723-p55ev2.html (02.02.2024).
Enloe, C. (2020): COVID-19: "Waging War” Against a Virus is NOT What We Need to Be Doing. URL: www.wilpf.org/covid-19-waging-war-against-a-virus-is-not-what-we-need-to-be-doing/ (02.02.2024).
Gary, M./Berlinger, N. (2020): Interdependent Citizens: The Ethics of Care in Pandemic Recovery. In: The Hastings Center Report. Jg. 50, Nr. 3, S. 56–58.
Krasny, E. (2023): Living with an Infected Planet: Covid-19 Feminism and the Global Frontline of Care. Transcript.
Madörin, M. (2006): Plädoyer für eine eigenständige Theorie der Care-Ökonomie. In: Niechoj, T./Tullney, M. (Hg.): Geschlechterverhältnisse in der Ökonomie (S. 277–298). Metropolis-Verlag.
Mitchell, G. (2021): Clap for Heroes: Nurses Say They Do Not Want Return of Applause. In: Nursing Times. URL: www.nursingtimes.net/news/coronavirus/clap-for-heroes-nurses-say-they-do-not-want-return-of-applause-07-01-2021/ (02.02.2024).
Nayar, P. K. (2022): The Art of Covid-19. In: Journal of Postcolonial Writing. Jg. 58, Nr. 2, S. 253–264. URL: doi.org/10.1080/17449855.2022.2043909 (02.02.2024).
Simon, A./Villa Braslavsky, P.-I. (2023): It’s a Dirty Job: How Life and Work Changed for Cleaners in Germany During the Covid-19 Pandemic. In: The Sociological Review Magazine. URL: doi.org/10.51428/tsr.fnxk2360 (02.02.2024).
Tronto, J./Fisher, B. (1990): Towards a Feminist Theory of Care. In: Abel, E. K./Nelson, M. K. (Hg.): Circles of Care: Work and Identity in Women’s Lives (S. 35–62). State University of New York Press.
Villa, P.-I. (2020): Corona-Krise meets Care-Krise – Ist das systemrelevant? In: Leviathan. Jg. 48, Nr. 3, S. 433–450.URL: DOI: 10.5771/0340-0425-2020-3-433 (02.02.2024).
Vondermaßen, M. (2020): Warum wir keinen Krieg gegen das Corona-Virus führen (und auch nicht damit anfangen sollten). URL: uni-tuebingen.de/de/174903 (02.02.2024).
-------------------------------------------------
Kurz-Link zum Teilen des Beitrags: https://uni-tuebingen.de/de/260871