International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Grundmotive und Werte

von Jonathan Lübke

07.03.2023 · Auseinandersetzungen über unterschiedliche Wertvorstellungen sind zentraler Bestandteil ethischer Reflexion. Es werden Argumente gebildet, um spezifische Werturteile zu stützen. Der Zugang zur Diskussion und Aushandlung von Wertvorstellungen ist dabei vornehmlich ein kognitiver. Eine Stärke kognitiven ethischen Argumentierens ist z.B., dass Widerspruchsfreiheit gut dargestellt werden kann, oder die deduktive Gültigkeit einer Konklusion aus den aufgeführten Prämissen etc. Der große Nachteil ist, dass es Menschen eben auf rationale Wesen reduziert und dazu tendiert, emotional argumentierende Menschen auszuschließen oder als störend zu diffamieren. Dieser Zugang zu Werten und damit auch die Auseinandersetzung darüber kann durch die Einbindung von emotionalen Qualitäten ergänzt und umfassender betrachtet werden. Diese Perspektive ist so banal wie sie unterbelichtet ist.

Die Motivationspsychologie (Allport, Costa/McCrae, Damasio, Murray, Reiss, Huber u.v.m.) hat durch (empirische) Forschung und Faktorenanalysen über die letzten Jahrzehnte ca. 16 bis 18 grundlegende, voneinander abgrenzbare, emotionale Qualitäten von Menschen herausgearbeitet, unsere Grundmotivationen. Darunter bspw. das Bedürfnis nach Ordnung, nach Beziehung oder wie gerne man Risiken eingeht oder nicht. Diese emotionale Energie beeinflusst auch, was wir für wichtig erachten. Das bedeutet, dass unsere Leitwerte, unsere Haltungen und eben auch unsere weiteren Wertvorstellungen entscheidend von unseren Grundmotivationen her geprägt werden und deshalb auch darüber zugänglich gemacht und diskutiert werden können.

Die Grundmotive haben keine eindimensionale Ausprägung, sondern werden wesentlich komplementär gedacht. Somit gibt es zu jeder grundmotivationalen Ausprägung eine komplementäre Seite, die die Qualität, die darin steckt, ergänzt. Beispielsweise ist die komplementäre Seite zu einem Bedürfnis nach Ordnung schaffen und halten, die der Flexibilität. Beide, also Ordnung und Flexibilität, sind Werte, die in jedem Menschen in einem spezifischen Mischverhältnis stehen. Manche brauchen viel Ordnung, um gut arbeiten zu können, andere weniger. Die Konflikte, die daraus entstehen können, kann sich jede Leser*in selbst ausmalen und sind alltäglich. Je stärker eine Seite bei einem Menschen ausgeprägt ist, desto weniger „Gespür“ gibt es für die Qualitäten des komplementären Antriebs. An dieser Stelle spricht man auch von emotional „blinden Flecken“. Interessant im Arbeitskontext der Pandemie der letzten Jahre ist das Beziehungsmotiv. Es gibt Menschen, die ein hohes Bedürfnis nach zwischenmenschlichem Austausch, nach Gesprächen und nach ”Leute treffen” haben. Anderen ist genau das ein Graus – sie sind lieber allein und ziehen sich zurück. Klar sollte sein, dass auch hier keine Seite besser ist als die andere, aber dass eine Kolleg*in mit einem großen Bedürfnis nach Zurückgezogenheit in einem Großraumbüro massiven Stress erlebt, kann man sich vorstellen – genauso wie die beziehungsliebende Kolleg*in im Home Office Stress erlebt, da ihr Bedürfnis nicht gestillt wird. Für manche ist das Sich-Hineinstürzen in einen Wildwasserfluss mit einem Boot pure Quelle der Lebensfreude, für andere wiederum eine Horrorvorstellung – das könnte auf sehr unterschiedliche Ausprägung im Risikomotiv hindeuten (Sie finden unten einen Link zu einer Übersicht aller 18 Grundmotive mit dazugehörigen Werten).

Die Möglichkeit, Wertvorstellungen aus Bedürfnissen heraus zu verstehen, ermöglicht neue Horizonte der Verständigung mit anderen Menschen. Der Grund, warum Diskussionen um konträre Wertvorstellungen so heftig werden können (“aus dem Ruder laufen”) ist, dass tiefsitzende Grundbedürfnisse auf dem Spiel stehen. Das affektive Betroffensein zeigt, dass es in solchen Auseinandersetzungen gar nicht so sehr um die “kühle Abwägung” von Argumenten geht, sondern um das Verteidigen und Stützen von Gefühlen (siehe auch den Blog-Beitrag von Katharina Wezel zum Thema Wut). Die Möglichkeit diese Bedürfnisse in einem Streit adressieren zu können, erhöht die Chance auf einen Kompromiss ungemein. Während durch das Argumentieren aus dem eigenen (unreflektierten) Standpunkt heraus ein Kompromiss häufig unwahrscheinlicher wird, kann er durch ein Ansprechen der auf dem Spiel stehenden Gefühle eher erreicht werden. Das darf nicht mit einem “Weichwaschen” von Argumenten oder “Gefühlsduselei” o.Ä. verwechselt werden. Keineswegs soll hier einseitig “Partei für Emotionalität” ergriffen werden, oder die Verbundenheit und wechselseitige Bedingung von Werten und Gefühlen übergangen werden. Es geht nur um die Betonung eines unterbelichteten Faktors (was auch mit einer Geringschätzung emotionaler Qualitäten in unserer politischen und wirtschaftlichen Kultur zusammenhängt.) Freilich hängt die Art und Weise des Nutzens dieses Wissens auch an der Persönlichkeit eines Menschen. Wie anderes Wissen auch könnte es missbraucht werden, um bspw. den Anschein zu geben, man würde sich für andere interessieren oder für gezieltes Ausnutzen und/oder Belasten bestimmter Grundmotivationen.

Die Vorteile liegen allerdings auf der Hand: Nicht nur gewinnt man durch diese Perspektive ein umfassenderes Verständnis von Menschen, sondern es wird möglich, die Grundmotivationen von Menschen trennscharf diskursiv zugänglich zu machen und dadurch für unterschiedliche Wertvorstellungen zu sensibilisieren, vor allem für die, die einem selbst fremd sind. Die ethische Reflexion über unterschiedliche Wertvorstellungen kann durch die Perspektive der Grundmotivationen ausgebaut und bereichert werden.

Anbei findet sich eine Übersicht zu den 18 Grundmotiven mit dazugehörigen Wertvorstellungen: 

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Literatur:

Fuchs, Helmut, and Andreas Huber. Die 16 Lebensmotive: was uns wirklich antreibt; [mit persönlichem Motiv-Profil]. Dt. Taschenbuch-Verlag, 2002.

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