International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Nachdenken über Sicherheitshandeln: Mit Odysseus und Orpheus

von Mara Mühleck & Katharina Wezel

19.03.2024 · Als Regina Ammicht Quinn 2016 fragte „Was will, kann und darf Ethik?“ (S. 63ff.) führte sie zur Veranschaulichung Odysseus ins Feld, der – um in den Genuss des Gesangs der Sirenen zu kommen, ohne sich und seine Gefolgschaft zu gefährden – seinen Seeleuten die Ohren versiegelte und sich selbst an einen Schiffsmasten binden ließ. So konnte er dem bezaubernden Gesang der Sirenen lauschen, ohne zu sterben. Regina Ammicht Quinn zeigt dann am Beispiel des griechischen Helden auf, wie Prävention gelingen kann. 

Vor Odysseus war es einem anderen Protagonisten der griechischen Mythologie gegönnt, den Gesang der Sirenen zu hören. Auch er und seine Gefährten kamen mit den verführerischen Klängen in Berührung und überlebten. Die Rede ist von Orpheus. Auf der Rückreise gerieten er und die Expedition, der er sich angeschlossen hatte, versehentlich in die Klänge (und fast die Fänge) der Sirenen. Orpheus, selbst der begnadetste Sänger und Musikant auf der Götter schönen Erden, zückte seine Lyra und begann, zu musizieren. Seine Klänge waren so wunderschön, dass sie die Gesänge der Sirenen bei Weitem übertrafen. Die Sirenen verstummten vor Scham.

Odysseus und Orpheus – zwei Protagonisten der griechischen Mythologie, die beide eine Gefahrenlage unbeschadet und doch auf ganz unterschiedliche Weise bewältigten. Worin unterscheiden sich ihre Vorgehensweisen und was können wir von ihnen über Sicherheitshandeln lernen?

Odysseus und Orpheus - zwei Herangehensweisen und ihr Bezug zur Sicherheitsforschung

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Odysseus und Orpheus ist, dass Odysseus sich und seine Gefolgschaft wissend in die Gefahrenlage manövrierte. Er war sich der Gefährdungen bewusst und hatte eine Ahnung, wie er ihnen begegnen kann. Odysseus betrieb Prävention. Regina stellt u.a. heraus, dass Odysseus dabei über drei in dieser Lage überlebensnotwendige Aspekte verfügte: „[…] Informationen über die Art, Ort und Ausmaß der Gefahr sowie über die Art der Sicherheit, die man erreichen will; […] ein hochwertiges technisches Artefakt, in diesem Fall ein Seil, das nicht gleich reißt; […]vertrauenswürdige und fähige Menschen, denn Odysseus’ Leben hängt davon ab, dass seine Kameraden ihn fesseln können, dass die Knoten so lange halten, bis die Gefahr vorbei ist; und dass sie ihn danach wieder frei lassen“ (S. 8). Odysseus war informiert. Seine Vorgehensweise war geplant und vorbereitet. 

Orpheus und Konsorten hingegen steuerten unwissend in eine missliche Lage. Sie waren unvorbereitet und von der verführerischen Gefahrenlage überrascht. Eventuell merkten sie zunächst gar nicht, dass sie in Gefahr waren, sondern frönten den zauberhaften Klängen. Orpheus Rettung ist Rettung im (vielleicht letzten) Moment. Er improvisiert, und zwar mit seinem Talent, der Musik. Im Gegensatz zu Odysseus war Orpheus weder informiert, noch vorbereitet. Er war uninformiert, seine Gabe schenkte ihm aber Zuversicht und eine Handlungsmöglichkeit und war genau das Werkzeug, das es brauchte, um die Expedition lebend aus der Situation zu führen. 

Odysseus Herangehensweise war körperlich und praktisch restriktiv. Er versiegelte die Ohren seiner Mitstreiter und ließ sich fesseln. Alle mussten seinen Anweisungen Folge leisten. Diese waren, wie seine Fesseln, bindend. Die angeleiteten Aufgaben mussten korrekt ausgeführt werden, damit das Unterfangen gelingt. Jedem wurde etwas abverlangt. Neudeutsch oder anglizistisch ließe sich diese Vorgehensweise als Top-Down-Prozess beschreiben, aber auch als Teamwork. 

Orpheus hingegen band seine Gefährten weder an noch ein. Im Gegenteil: er entband seine Weggefährten davon, selbst etwas tun zu müssen, er entband sie von jeglicher Beteiligung. Statt Teamwork ist seine Rettung die Aktion eines Einzelnen. Statt Restriktionen für andere und sich selbst zu etablieren, entfaltete sich Orpheus selbst in seiner musikalischen Pracht. Damit schuf er einen affektiv-emotionalen Raum - eine Atmosphäre der Sicherheit, die selbst Sicherheit schafft. Durch seine Musik schuf er ein stärkeres Narrativ: Das „feindliche“ der  Bedrohung rückt in den Hintergrund, der Fokus wird neu ausgerichtet und trotzdem ist die Gefahr gebannt. Er verschiebt in der Situation die Aufmerksamkeit von den Sirenen (der Gefahr) auf seine Musik (die persönlichen Ressourcen). Somit ist das Gelingen seiner Herangehensweise jedoch ganz von ihm, einer einzigen Person, abhängig. Verantwortung verteilt sich hier nicht auf mehrere Schultern, ebenso wenig sind Redundanzen vorhanden.

Odysseus und Orpheus - Motive der Sicherheitsforschung

An den beiden mythologischen Figuren spiegeln sich verschiedene Motive der Sicherheitsforschung wider. Wir haben es mit vorhersehbaren Lagen zu tun, auf die wir uns vorbereiten können, bspw. wenn uns jemand warnt, wie Circe es bei Odysseus getan hatte. Wir haben es aber auch mit unvorhersehbaren Lagen zu tun, in denen wir, wie Orpheus, auf Götter, Talente und Improvisationen angewiesen sind. Was braucht also die Sicherheitsethik, Orpheus oder Odysseus? Es braucht – vielleicht wenig überraschend – beide, denn: 

Sicherheit ist ein relationaler Wert. Das heißt, er muss und wird in Sicherheitslagen in Abwägung zu anderen Werten stehen. Hier muss immer wieder austariert werden und dafür braucht es Informationen und Strukturen, wie im Fall von Odysseus, aber auch Können, Kreativität und  Verbundenheit wie Orpheus sie mit seinen Klängen schuf. 

Eine häufig auftretende Spannung in Krisenlagen bezieht sich beispielsweise auf die Aushandlung zwischen ermöglichendem und restriktiv-hierarchischem Handeln.  Von Odysseus können wir in Bezug auf Sicherheitshandeln die Wichtigkeit von Gefahrenbewusstsein lernen. Durch sein Bewusstsein für die bevorstehende Gefahr bereitete er sich und seine Mannschaft entsprechend vor. Aus seinem Gefahrenbewusstsein generiert er Handlungssicherheit und die Option für konkrete Vorbereitungen (wie bspw. Vorräte anlegen).

Orpheus hatte keine Möglichkeit, vorab Strukturen oder Abläufe zu schaffen. Er und seine Mitfahrenden waren in die Lage geworfen, die Rettung der Besatzung hing an und war abhängig von seiner Person. Notfallpläne gab es keine. Im Gegensatz dazu schuf Odysseus einen konkreten Ablauf für die Bewältigung der Lage. Das Gelingen des Unterfangens hing von der Güte seines Plans ab, jedoch hätte die Crew auch überlebt, wenn Odysseus sich seiner Fesseln entledigt und hinab zu den Sirenen gestiegen wäre. Von Orpheus können wir in Bezug auf Sicherheitshandeln Leichtigkeit und die Wirkkraft alternativer Lesarten (hier: Klänge) lernen. Aus seinen Gaben schöpfen er und seine Crew Zuversicht. Sein Blick für persönliche Ressourcen und deren unmittelbare Aktivierung sichert der Mannschaf das Überleben. Top-Down-Prozesse und klare Zuständigkeiten können häufig sinnvoll sein, um einzelne Personen nicht zu überfordern. Bottom-Up Prozesse und Eigeninitiative sind in Krisenlagen in einem Katastrophenschutz, der nach Subsidiaritätsprinzip organisiert ist, unerlässlich. Auch wenn in Krisenlagen gut gemeinte Eigeninitiativen bisweilen zu mehr Problemen führen können, sind Eigeninitiative und kreative Lösungen dennoch unerlässlich. Es kann schwierig sein, im Krisenfall ein gutes Maß an zuversichtlich-ermöglichendem Verhalten (Orpheus) und stark anleitendem Verhalten (Odysseus) miteinander zu vereinen.

Zwei weitere klassische Motive der Sicherheitsforschung sind die der Abwägung zwischen Sicherheit und Autonomie und die der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. In den beiden Erzählungen der griechischen Mythologie verkörpert Odysseus oft die Seite der Sicherheit. Intuitiv könnte nun Orpheus, samt seiner Musikalität und Leichtigkeit, der Part der Freiheit und Autonomie zugeschrieben werden. Die Dichotomien zwischen Sicherheit und Freiheit bzw. Autonomie kann jedoch auch gänzlich in Frage gestellt werden.

Hierzu können wir uns des Konzepts der relationalen Autonomie bedienen, das u.a. auch in der Care-Ethik zu finden ist. Es besagt, dass sich alle Menschen immer in Beziehungen zu anderen Menschen befinden und somit abhängig voneinander sind. Ein einzelnes, gänzlich autonomes Subjekt gibt es hier nicht. Dennoch geht es auch darum, innerhalb von gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehungen graduelle Autonomien und autonome Räume zu schaffen. Odysseus und Orpheus befinden sich beide auf diesem Kontinuum und nutzen die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Spielräume auf unterschiedliche Weise. Odysseus, der von der nahenden Gefahren wusste und qua Rolle Verantwortung für seine Crew hatte, schützte seine Mannschaft durch einen „Katastrophenplan“: So kam er seiner Schutzverantwortung nach, die sowohl aus seiner Beziehung zur Besatzung als auch aus seiner eigenen herbeigeführten Gefährdung entstand. Orpheus, der sich der Expedition Jasons angeschlossen hatte und in keiner Führungsrolle an Bord war, schützte sich und die Mannschaft durch die Aktivierung seiner persönlichen Ressourcen. Er übernahm als Mitfahrender Verantwortung für seine Mitmenschen ohne qua Rolle dafür zuständig zu sein. Beide Herangehensweisen waren auf das Wohlergehen und die Sicherheit der Gefährten ausgerichtet.

Odysseus und Orpheus - kleine Lehren für Sicherheitshandeln

Was lernen wir nun von Odysseus und Orpheus über Sicherheitshandeln? Sicherheitshandeln bedeutet, sich auf bekannte Gefahren vorzubereiten, aber auch Flexibilität und Ressourcen zu schaffen, um unbekannte Gefahren adressieren zu können. Beides erfordert unterschiedliche Fähigkeiten und Strategien. In Krisensituationen sind diese Strategien immer in Bezugnahme und unter Berücksichtigung allgemeiner gesellschaftlicher Nöte und Bedarfe zu bewerten. Denn gleichgültig ob vorhersehbare oder unvorhersehbare Lage: Sicherheitshandeln ist immer auch Fürsorge-Handeln.

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Literatur:

Ammicht Quinn, R (2016): Was will, kann und darf Ethik? In: Ammicht Quinn, R., Baur-Ahrens, A., Bescherer, P., Gabel, Friedrich, Heesen, J., Krüger, M, Leese M. & Matzner, T. (2016). Gutachten für den 21. Deutschen Präventionstag am 6./7. Juni 2016 in Magdeburg: Prävention und Freiheit – Zur Notwendigkeit eines Ethik-Diskurses. S. 7-31. Online abrufbar: http://www.praeventionstag.de/html/download.cms?id=500&datei=Gutachten_21DPT-500.pdf. [abgerufen am 03.05.2023]

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