International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Never have to say Goodbye? Aktuelle Forschungen zur Ethik des Digital Afterlife

by Matthias Meitzler

06.05.2025

Rund 2.600 geladene Gäste warteten am 22. November 1963 im Dallas Trade Mart gespannt auf die Ankunft von John F. Kennedy, der im Rahmen eines Wahlkampfauftritts gegen 12:30 Uhr eine Rede halten sollte. Dazu kam es allerdings nicht. Auf dem Weg zum Veranstaltungsort wurde der in einer offenen Limousine sitzende US-Präsident durch die Schüsse eines Scharfschützen getötet. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Attentat kann man die nie gehaltene „Dallas Trade Mart Speech“ dennoch hören – in der Stimme von Kennedy. Längst verstorbene Musiker wie etwa Elvis Presley, Whitney Houston oder Curt Cobain feiern Jahre nach ihrem Ableben ein postmortales Comeback, und auch in einigen neueren Filmen treten Schauspieler:innen auf (u.a. Carrie Fisher, James Dean, Paul Walker), die mal kürzere, mal längere Zeit vor den Dreharbeiten gestorben sind. Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt am Main bietet derzeit eine Ausstellung an, deren Besucher:innen sich mit zwei Überlebenden des Holocaust unterhalten können. Letztere sind nicht persönlich vor Ort, sondern werden von einer digitalisierten Version ihrer selbst vertreten. Diese ist auf einem großen Monitor eingeblendet und reagiert von dort aus auf die an sie gerichteten Gesprächsimpulse. Die Engländerin Marina Smith wiederum sprach auf ihrer eigenen Beerdigung zu der versammelten Trauergemeinde und stand für anschließende Fragen Rede und Antwort. In einer südkoreanischen TV-Dokumentation ist eine junge Frau zu sehen, die, ausgestattet mit einer VR-Brille, ihrer siebenjährigen Tochter in einer virtuellen 3-D-Welt begegnet.

Was haben all diese Beispiele gemeinsam? Im Wesentlichen geht es darum, dass Menschen, die bereits tot sind oder in absehbarer Zeit sterben werden, eine sie selbst überdauernde digitale Repräsentation erhalten. Hierfür kommen u.a. Technologien der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz. Die schon jetzt existierenden Anwendungen des sogenannten digitalen Weiterlebens unterscheiden sich u.a. im Hinblick auf die Aufbereitung der eingespeisten Daten. Relativ einfache Applikationen geben gespeichertes Material unverändert aus. Hinterbliebene erhalten z.B. zu vorher definierten Anlässen ausgewählte Text-, Sprach- oder Videobotschaften der Verstorbenen, oder sie können Fragen in eine App eintippen und bekommen die dazu am besten passende (bereits bestehende) Sequenz als Antwort. Darüber hinaus gibt es aber auch generative KI-Systeme, die so lange mit textlichen, akustischen oder visuellen Daten einer bestimmten Person trainiert werden, bis sie in der Lage sind, deren Kommunikationsweisen nachzuahmen. Bei dem neu erzeugten Output handelt es sich um geschriebene oder gesprochene Sätze, die die betreffende Person zu Lebzeiten selbst nicht gesagt hat, sie aber – gemäß des Werbeversprechens der Anbieter – so oder so ähnlich gesagt haben könnte

Rund um das so verstandene digitale Weiterleben hat sich in den vergangenen Jahren ein neuer Wachstumsmarkt gebildet, der auch als Digital Afterlife Industry (DAI) bezeichnet wird und dessen Anbieter vor allem aus dem US-amerikanischen und ostasiatischen Raum stammen. Neben Personen des öffentlichen Lebens adressiert die DAI auch und vor allem den Privatbereich. Hinterbliebene können auf diese Weise mit Simulationen verstorbener Familienmitglieder oder Freunden in Kontakt treten – etwa schriftbasiert in Form eines Chatbots oder aber durch einen Avatar, also einen virtuellen Körper, der dem früheren Aussehen des/der Verstorbenen nachempfunden ist und in derselben Stimme spricht, wie er/sie einst gesprochen hat.

Derartige Technologien erscheinen verheißungsvoll und bedienen nicht zuletzt den alten Menschheitstraum von der Überwindung der Endlichkeit. Gleichzeitig werfen sie einige noch ungeklärte Fragen auf: Was bedeutet die KI-basierte digitale Fortexistenz für das künftige soziale Mit-, Für- und Gegeneinander? Können technische Simulationen geliebter Personen die Trauer um ihren Verlust, aber auch die Gewissheit der eigenen Sterblichkeit erleichtern oder bewirken sie eher das Gegenteil? Wem obliegt die Entscheidungshoheit über die Gestaltung der virtuellen Person und die für sie verwendeten Trainingsdaten? Wie ist zu verfahren, wenn sich Hinterbliebene in dieser Angelegenheit uneinig sind? Was geschieht, wenn Nutzer:innen ihrerseits versterben – kann man einen Avatar (und die mit ihm verknüpften Profile und Daten) vererben? Von besonderer ethischer Brisanz sind wiederum etwaige Manipulations- bzw. Missbrauchsrisiken sowie das Spannungsverhältnis von ökonomischen Interessen auf der Anbieter- und Trauerbedürfnissen auf der Nutzer:innen-Seite.

Diese und weitere Überlegungen standen im Mittelpunkt eines von 2022 bis 2024 durchgeführten gemeinsamen Forschungsprojektes des IZEW (Tübingen) und des Fraunhofer SIT (Darmstadt), dessen Ergebnisse in einer kürzlich erschienenen Arbeit publiziert wurden. Im Rahmen der interdisziplinären Studie (Rechtswissenschaft, Informatik, Theologie, Soziologie, Medienwissenschaft und Ethik) wurden zunächst die bestehenden DAI-Dienste hinsichtlich ihrer Funktionsweisen, Inhalte und Vermarktung unter die Lupe genommen und einer ethischen Reflexion im Hinblick auf mögliche Nutzungs- und Datenverwertungsszenarien unterzogen. Darauf aufbauend brachten Stakeholder aus unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern (z.B. Bestattungswesen, konfessionelle Seelsorge, Sterbe- und Trauerbegleitung, Design) ihre Expertisen im Rahmen von Interviews und Fokusgruppendiskussionen ein. Ferner wurden Privatpersonen zu ihren Erfahrungen im Umgang mit digitalen Angeboten der Trauerbewältigung und zu ihren Einstellungen zum KI-basierten Digital Afterlife befragt. Unter der Annahme, dass es sich bei Letzterem um einen Fiktions- und Projektionsraum handelt, dessen weitere gesellschaftliche Entfaltung noch nicht klar abzusehen ist, wurden außerdem ausgewählte Filme und Serien(-episoden) analysiert, die fiktionalisierte Szenarien dieses technologischen Kontextes behandeln und ethische Problemstellungen aufwerfen. Auf diesem Weg konnten verschiedene gesellschaftliche Perspektiven auf das Thema identifiziert und ein umfassendes Verständnis seiner vielfältigen Aspekte und Herausforderungen gewonnen werden.

Die Personen, die in der Studie zu Wort gekommen sind, äußern sich überwiegend skeptisch und zum Teil besorgt gegenüber den Angeboten der DAI. Besonders kritisch wird dabei der Einsatz von generativer KI gesehen. Häufig angesprochene Aspekte sind u.a. eine mögliche Störung des Trauerprozesses, das Risiko der Realitätsverleugnung und emotionalen Abhängigkeit, die Gefahr der Profitorientierung auf Kosten der Trauernden und ihrer vulnerablen Situation, Unsicherheiten bezüglich der Daten- und Gestaltungshoheit der Avatare, die ungewollte Veränderung bzw. ,Überschreibung‘ der Erinnerung an Verstorbene sowie ein generelles Unbehagen hinsichtlich menschenähnlicher, letztlich aber eben doch künstlicher Simulationen. Derartige Einwände haben ihre Berechtigung und wurden für die weitere ethische Auseinandersetzung berücksichtigt. Gleichwohl fehlen aufgrund der insgesamt noch geringen Verbreitung entsprechender Anwendungen bislang belastbare empirische Erkenntnisse zu ihren trauerpsychologischen Wirkungen. Eine genauere Einordnung erfordert u.a. die Differenzierung nach bestimmten Nutzungskontexten und weiteren Parametern (z.B. Alter und Todesumstände der Verstorbenen, die Qualität der zu ihnen aufgebauten Beziehung, Zeitpunkt und Dauer der Inanspruchnahme des Dienstes). Zu berücksichtigen ist nicht zuletzt die Dynamik der Trauer: Verlustbezogene Bedürfnisse – etwa nach medialen und sozialen Beziehungsformen – können sich im Laufe der Zeit ändern.

Besondere ethische Herausforderungen ergeben sich aus der marktförmigen Gestaltung der Digital Afterlife Industry und ihrer Einbettung in datenökonomische Geschäftsmodelle (Stichwort: Plattformökonomie), aus der Frage nach Herkunft und Qualität der verwendeten Trainingsdaten sowie aus der grundsätzlichen Problematik, ob und inwieweit sich menschliche Identität auf die Summe hinterlassener Daten reduzieren lässt. In diesem Zusammenhang erhalten der Schutz und die Sicherung der Rechte von Verstorbenen und Angehörigen einen besonderen Stellenwert. Hierfür braucht es u.a. klare Richtlinien für die Erzeugung, Verwendung und Löschung der digitalen Repräsentationen und für deren Befugnisse. Angesichts ihres zunehmend realistischen Auftretens sollten Avatare bzw. die mit ihnen verbundenen KI-generierten Inhalte stets als solche gekennzeichnet sein. Auch müssten der Datenschutz sowie das in dieser Hinsicht noch lückenhafte postmortale Persönlichkeitsrecht auf die neuen Nutzungskontexte der DAI angepasst werden. Menschen, die sich ausdrücklich gegen eine solche postmortale Verwertung ihrer Daten aussprechen bzw. nicht mit Simulationen verstorbener Familienmitglieder konfrontiert werden möchten, sollten dies rechtlich verbindlich absichern können. Generell ist ein kritisches Technikverständnis innerhalb der Bevölkerung zu fördern; neben dem Wissen über die jeweiligen Funktionsweisen von KI-Anwendungen gehört dazu ebenso die Fähigkeit, die Dienste der DAI mit Blick auf ihre Auswirkungen auf persönlicher, gesellschaftlicher und ethischer Ebene zu reflektieren. Hierfür bräuchte es zuverlässige Anlaufstellen, um zielgruppengerechte Informationen zu erhalten, sowie einen intensiven Dialog zwischen sämtlichen Akteuren, die von dieser Thematik tangiert werden.

Die betreffenden Dienste des digitalen Weiterlebens befinden sich derzeit noch in einem frühen Entwicklungsstadium und haben zum Teil noch keine vollständige Marktreife erreicht. Sollte es in Zukunft möglich sein, solche virtuellen Kommunikationspartner:innen immer effizienter und überzeugender zu kreieren, dann wird die Digital Afterlife Industry langfristig noch weiter wachsen und neue Geschäftsmodelle hervorbringen. Neben dem technischen ist nicht zuletzt auch der demografische und mit ihm der soziale Wandel zu berücksichtigen: Im Vergleich zu ihren Eltern und Großeltern kennen die (noch jungen) Vertreter:innen der sogenannten digital natives das ,vor-digitale Zeitalter‘ nur mehr aus Erzählungen, während sie mit Formen der online-basierten Kommunikation (die bisweilen auch künstliche virtuelle Personen inkludiert) bereits wesentlich mehr vertraut sind. Was bedeutet diese Verschiebung für die Zukunft, wenn der Anteil der digital natives an der Gesamtbevölkerung so hoch ist, dass diese Bezeichnung allmählich obsolet wird und entsprechende Generationen ein Alter erreicht haben, in dem die Bewältigung von Trauer und Verlust sowie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensende keine ferne Zukunftsaussicht, sondern gegenwärtige Realität ist? Auch vor diesem Hintergrund könnte die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Technologien und Angebote der DAI noch weiter zunehmen. Umso wichtiger erscheint es, für dieses bislang noch wenig erschlossene Aktionsfeld einen geeigneten Rahmen zu schaffen, der einen informierten, ethisch reflektierten, selbstbestimmten und gleichsam verantwortungsvollen Umgang ermöglicht.


Autor: Matthias Meitzler 
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