Harry Potter in Corona-Zeiten: Was wir von einem modernen Märchen über den Tod und das gute Leben lernen können
von Anna-Lisa Sander
26.05.2020 · Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnt in ihrem Umgang mit der Corona-Krise immer wieder zur Vorsicht. Auch bei der Verkündung maßgeblicher Lockerungen der Corona Schutzmaßnahmen (6.05.), zeigte sie sich nur vorsichtig optimistisch. Im Hintergrund steht dabei eine Debatte, die seit einiger Zeit intensiv geführt wird: Steht der Schutz des Lebens vor allen anderen wertvollen Gütern, allen voran der Freiheit oder der Würde? Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat im Tagesspiegel (26.04.) zu Bedenken gegeben, dass laut dem Grundgesetz nicht etwa der Schutz des Lebens das höchste Rechtsgut ist. Unantastbar sei allein die Würde. Damit gab er der Debatte eine interessante Wendung: Ist es nicht das gute Leben, anstelle des bloßen Überlebens, das die Kontaktbeschränkungen schützen sollten?
Neben der schon vieldiskutierten Frage, wie weit Regierungen darin gehen dürfen, Grundrechte wie die Freiheit einzuschränken, spricht Schäuble damit auch ein Thema an, das bisher weniger Aufmerksamkeit erfahren hat: Da die Corona-Pandemie unsere Sterblichkeit hervorhebt, sind wir mit der Frage nach der Bedeutung des Sterbens, des Todes konfrontiert. Schäuble erinnert daran, dass auch insofern die Würde im Grundgesetz als absoluter Wert wirksam ist, „sie nicht [ausschließt], dass wir sterben müssen.“ Auch ohne Corona und ein möglicherweise überlastetes Gesundheitssystem, müssen wir mit dem Tod als Moment des Lebens umgehen. Er ist grundsätzlich kein Fehler im System, sondern Teil des Lebens. Doch wie verträgt sich das mit dem guten Leben? Und stellt sich dies in Corona-Zeiten prinzipiell anders dar?
Kultur- und ideengeschichtlich tritt der Tod immer wieder als absolute Grenze auf, die der Mensch zu überwinden hofft. Von der christlichen Auferstehungsgeschichte, über Versuche der Tech-Industrie, den Menschen unsterblich zu machen, sucht auch die Weltliteratur Antworten darauf, was der Tod für die Lebenden bedeutet, wie er überwunden oder ertragen werden kann. Joanne K. Rowlings1 generationenübergreifend immens beliebte Harry Potter-Saga ist als eine Art moderner Mythos zentral mit dem Thema des Todes beschäftigt und hat ein düsteres, doch letztlich hoffnungsvolles Bild anzubieten: Voldemort, der tief böse Gegenspieler Harry Potters, strebt offenkundig die Weltherrschaft an. Dahinter steht jedoch ein anderer Wunsch, nämlich sich der Endgültigkeit des Todes entziehen zu können und zwar einzig dem eigenen. Harry auf der anderen Seite hat ebenfalls mit den Zumutungen des Todes zu kämpfen, doch leidet er in erster Linie am Tod Anderer, allen voran dem Verlust seiner Eltern. Wie der weise, alte Schulleiter Dumbledore feststellt, ist es die Fähigkeit zu lieben, welche Harrys Überlegenheit gegenüber Voldemort anzeigt. Voldemort kann die Todesangst nicht überwinden, er findet bei niemandem und nichts Halt, womit ihm nur bleibt, den Tod radikal zu verneinen bzw. sich selbst auf die Position des Todes zu stellen: den Tod Anderen zu bringen und selbst unsterblich zu werden. Er versteht nicht, was Dumbledore so sicher weiß, dass es weit schlimmere Dinge gibt als den Tod. „Bedauere nicht die Toten, Harry. Bedauere die Lebenden, und besonders all diejenigen, die ohne Liebe leben.“, gibt Dumbledore Harry zu Bedenken. Dass ein Leben ohne Liebe schlimmer sein mag als der Tod, davon zeugt Harrys Geschichte, jedoch auch, dass zur Liebe unwiderrufliche Verlusterfahrungen gehören, wie der Tod geliebter Menschen. Dass dieser Schmerz nicht vermieden werden kann, sondern anerkannt werden muss, lernt Harry über viele, zumeist haarsträubende Abenteuer. Hierbei setzt nicht nur er selbst immer wieder sein Leben aufs Spiel, eine Reihe von Vertrauenspersonen tun dasselbe für ihn. Harry liebt nicht nur, er wird auch geliebt und auf diese Weise kann er Voldemort schließlich vollends besiegen, der hingegen bis zum bitteren Ende uneinsichtig bleibt.
Mit G.W.F. Hegel2 gesprochen, meistert Harry damit den „absoluten Herrn“, den Tod, so gut wie eben möglich: Das gute Leben bedarf zwar ein Überleben, jedoch auch ein Überschreiten der Unmittelbarkeit des natürlichen Daseins. Die Schwierigkeit, wie Hegel sie im Herr-Knecht-Verhältnis erläutert, besteht darin, weder das natürliche Leben noch das geistige Leben zu verabsolutieren (Herr) und zu sehen, wie beide voneinander abhängen (Knecht). Indem der Knecht die endlichen Dinge bearbeitet, wird er sich selbst in seiner unendlichen Dimension ansichtig. Arbeiten kann der Knecht jedoch nur, weil er seine Todesangst durchlebt hat. Er musste „um sein ganzes Wesen“ fürchten, „alles Fixe hat in ihm gebebt“, eine kaum zu ertragender und traumatisch anmutender Erfahrung. Harry kann diese nur durchstehen, weil ihn Andere stützen, selbst wenn sie physisch nicht bei ihm sein können, wozu auch die Toten gehören.
Ein entscheidendes Thema ist dabei die Generationenfolge. Der Tod der Alten, in der Harry Potter Saga zum Beispiel durch Dumbledore verkörpert, zeigt nicht nur ein Ende an, sondern auch, dass Nachkommende daran anknüpfen können. Hierzu noch einmal Schäuble: „Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher.“ Für Schäuble, wie auch für Dumbledore scheint die Aussicht, bald einer nächsten Generation Platz machen zu müssen, keine Katastrophe, sondern Moment des guten Lebens. Dies ist selbstverständlich nur eine Umgangsweise mit dem Tod. Jedem sollte zugestanden werden, die Frage nach der Bedeutung des Todes für sich selbst zu beantworten. So zeichnet sich die Corona-Krise dadurch aus, dass Menschen deutlich vor ihrer Zeit sterben. Zwar trifft auch dies die älteren Generationen mehr als die jüngeren. Doch letztere kann dies nur kalt lassen, wenn sie vergessen, dass die Generationen sich nicht einfach ablösen, sondern auch miteinander existieren. In diesem Sinn können Schäubles Bemerkungen als Anstoß dienen, Fragen nach dem Tod und der Generationenfolge generationenübergreifend und solidarisch zu stellen.
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1 Rowling, Joanne K. (2007): Harry Potter und die Heiligtümer des Todes. Hamburg: Carlsen.
Schäuble, Wolfgang im Interview, Tagesspiegel (26.04.2020) „Bundestagspräsident zur Corona-Krise: Schäuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen“.
2 Hegel, Georg W. F. (1807): Phänomenologie des Geistes, in: Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel (Red.): Theorie-Werk-Ausgabe Band 3., 2014. Frankfurt am Main: Suhrkamp.