Rassismus geht uns alle etwas an. Anti-Rassismus auch.
Von Sandra Dürr und Sheena Anderson1
Krisen können wie ein Brennglas auf soziale Missstände und strukturelle Ungerechtigkeit in Gesellschaften hindeuten. Das ist auch mit COVID-19 der Fall: Rassismus gegenüber als asiatisch gelesenen Menschen nahm zu, in Brasilien, Großbritannien und den USA ist die COVID-19 bedingte Gefährdung und Sterberate von PoC und Schwarzen Menschen unverhältnismäßig hoch, und auch die Bedingungen unter denen ausländische Arbeiter*innen in der deutschen Lebensmittel-, allen voran Fleischproduktion, arbeiten, müssen durch eine rassismussensible Linse gelesen werden. Und dies sind nur drei bekannte Beispiele. Wir müssen über Rassismus sprechen - nicht mal wieder, sondern immer wieder. Nach der Ermordung George Floyds bei einem Polizeieinsatz und der zahlreichen Proteste der Black Lives Matter Bewegung weit über die Grenzen der USA hinaus, nimmt auch in Deutschland die Debatte um Anti-Schwarzen Rassismus zu. Hierzu folgen einige Gedanken.
Nachdem der Afroamerikaner George Floyd am 25. Mai diesen Jahres in Minneapolis von einem weißen Polizisten bei einem Polizeieinsatz getötet wurde, gibt es in den USA seit nunmehr drei Wochen landesweite Proteste und Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt und für die Gleichberechtigung von Schwarzen Menschen. Diese Proteste erfahren mittlerweile große Solidarität weit über die Grenzen der USA hinaus.
Wie Ihnen bestimmt aufgefallen ist, entsprechen die Schreibweisen von weiß und Schwarz hier nicht den empfohlenen Schreibweisen des Duden. Das liegt daran, dass diskriminierungssensible Sprache, wie beispielsweise aus dem Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher*innen, verwendet wird.
Weiß wird an dieser Stelle kursiv geschrieben, da es sich nicht um eine biologische Kategorie, sondern um eine sozio-politische Zugehörigkeit und Machtposition handelt.
Schwarz wird großgeschrieben, da es sich nicht um eine biologische oder ethnische Kategorie handelt, sondern als Selbstbezeichnung die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausdrückt, die von Rassismus betroffen ist.
Nach dem Mord an George Floyd ist die Debatte um Rassismus nicht nur in den USA, sondern in vielen anderen Länder in der breiten Öffentlichkeit und den dominanten medialen Diskursen viel präsenter geworden – weit mehr, als sie das für weiße Menschen häufig ist. Für Schwarze Menschen ist Rassismus aber keine mediale Debatte, sondern fester Bestandteil ihres Alltags und ihrer Erfahrungen. Weiße Menschen können sich aussuchen, ob sie sich mit Rassismus auseinandersetzen; Schwarze Menschen nicht. Auch in Deutschland nimmt die mediale Auseinandersetzung mit Anti-Schwarzem Rassismus zu, womit einer bislang vielfach ignorierten Forderung von Rassismus betroffener Menschen entsprochen wird.
Obwohl zunächst Menschen ihr Leben lassen mussten und das der Debatte einen entsprechenden Beigeschmack verleiht, ist es gut und wichtig, dass diese auch hier in Deutschland nun mit mehr Aufmerksamkeit, Präsenz und Veränderungswillen geführt wird. Dennoch bleibt sie in vielen Fällen häufig oberflächlich bis problematisch und reproduziert rassistisches Denken. Zu einer Debatte kam es in der Pfingstwoche vorab der Aufzeichnung und Sendung der Talkrunde „Maischberger“, zu der fünf weiße Menschen eingeladen wurden. Thema der Runde sollte u.a. auch der Mord an George Floyd und rassistische Polizeigewalt in den USA sein. Sandra Maischberger hat über Twitter die Auswahl der Gesprächspartner*innen damit begründet, dass auch andere tagespolitische Themen verhandelt werden sollten, zum Beispiel die Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen COVID-19, die Konjunkturpakete der Bundesregierung und Reisewarnungen. Dies zeigt eine einseitige Wahrnehmung von Schwarzen Menschen, wie die Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags Aminata Touré in einer Antwort auf Twitter formuliert hat: „Schwarze Menschen können sich tatsächlich auch zu diesen Themen positionieren.“ Ein anderer Tweet verweist auf die Oberärztin und Leiterin Sektion Infektiologie am UKE, Prof. Marylyn Addo, die zur Talkshow hätte eingeladen werden können. Außerdem hat die Journalistin Hatice Akyün kritisiert, in welch paternalistischem Tonfall Sandra Maischberger dafür warb, die Sendung erst einmal anzusehen und im Anschluss weiter zu diskutieren. Tatsächlich wurde dann noch die afroamerikanische Wissenschaftlerin Priscilla Layne in die Sendung hinzugeschaltet. Die Frage bleibt jedoch, wieso keine afrodeutsche Person eingeladen wurde.
Dieses Beispiel zeigt paradigmatisch, dass sich Rassismus auf sehr unterschiedlichen Ebenen eben auch in Deutschland abspielt – von strukturell bis individuell. Aber Rassismus funktioniert nicht nur als ordnendes globales System, sondern wird ständig auf individueller Ebene reproduziert, überall, auch in Deutschland. Deutlich machen dies die Kulturwissenschaftlerin und Soziologin Dr. Natasha A. Kelly im Deutschlandfunk Kultur und der Journalist Malcolm Ohanwe bei ZEIT online. Beide erläutern, dass es eine lange afrodeutsche Geschichte gibt und damit verbunden eine lange deutsche Geschichte des Rassismus, was jedoch beispielsweise in der Schule kaum gelehrt wird und in der weißen Mehrheitsgesellschaft ignoriert wird. Tut sich jetzt etwas? Auch hier in Deutschland gingen in vielen Städten (Berlin, München, Hamburg, Stuttgart, auch Tübingen) in den letzten Wochen Menschen im Gedenken an George Floyd und anderer Opfer rassistischer Polizeigewalt auf die Straße, um für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung von Schwarzen Menschen zu demonstrieren, um Solidarität mit der Bewegung „Black Lives Matter“ auszudrücken und um die Anti-Rassismus Bewegung zu unterstützen. Es ist ein Hoffnungszeichen, dass die Aufmerksamkeit auch unter weißen Menschen endlich steigt – und hoffentlich erhalten bleibt. Denn gleichzeitig muss gefragt werden, was das für eine Gesellschaft ist, die nach den rassistisch motivierten Morden in Hanau nicht so zahlreich auf die Straße ging, sondern erst jetzt. Die aktuelle Aufmerksamkeit für Anti-Rassismus darf nicht nur ein Trend sein, Anti-Rassismus muss erprobt und erlernt werden, weil Rassismus erlernt wird. Anti-rassistische Haltungen müssen verinnerlicht und gelebt werden.
Wir (Sandra Dürr) weißen Menschen müssen lernen, Rassismus beim Namen zu nennen, auch wenn es unangenehm ist. Wir weißen Menschen müssen lernen, dass wir weiße Privilegien haben, die, wie Natasha A. Kelly es formuliert hat, die andere Seite der Medaille von Rassismus sind. Wir weißen Menschen müssen lernen, dass es nicht reicht, zu sagen, wir seien ja nicht rassistisch, aber…! Wir weißen Menschen müssen Schwarze Perspektiven anhören, lesen und ernst nehmen. Die Aufgabe von uns weißen Menschen ist es, uns aktiv mit unserer Rolle auseinanderzusetzen. Auf diesem Weg zu anti-rassistischem Denken und Handeln und zu einer anti-rassistischen Gesellschaft können wir z.B. auf die unzähligen Werke von Schwarzen Autor*innen zurückzugreifen. Für den deutschen Kontext sind hierbei u. a. die aktuellen Bücher „Exit Racism“ von Tupoka Ogette und „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters zu nennen. Aber die afrodeutsche Geschichte ist länger, May Ayims Gedichte sprechen davon und der Dokumentarfilm von Jana Pareigis Afro.Germany zeigen uns das. Anti-Rassismus muss als moralischer Wert, als Handlungsanweisung verstanden werden, wir müssen unser eigenes Denken und Handeln daran ausrichten und uns daran messen, wie anti-rassistisch wir sind.
Denn Rassismus tötet. Auch und vor allem in Zeiten von Corona.
Und Schwarze Menschen? Wir (Sheena Anderson) Schwarzen Menschen müssen vor allem auf uns selbst achten. Nicht nur in Bezug auf tatsächliche (Polizei-) Gewalt, sondern auch auf unsere mentale Gesundheit. Bilder rassistischer Gewalt machen etwas mit uns, sie rufen schlimme Erinnerungen hervor, verursachen Schmerz, rassistische Traumata. Wir brauchen Räume zum Austausch, zum gegenseitigen Empowerment, Räume, in denen wir einfach nur wir sein können. Wir müssen uns gegenseitig stärken, indem wir von Schwarzen Autor*innen lesen, Podcasts von Schwarzen Menschen hören, Schwarze Gründer*innen unterstützen, unsere eigene Expertise anerkennen und wertschätzen und uns trotz der Anstrengung Gehör verschaffen, immer wieder. Und wir brauchen allies. Für Fabienne Sand bedeutet Allyship die „aktive Bildung von Allianzen gegenüber marginalisierten Personen“. Das Finden von allies ist anstrengend, es ist ermüdend, aber es ist notwendig. Und es kann funktionieren, wenn weiße Menschen dem Appell oben ernsthaft und auf Dauer folgen.
Denn Rassismus tötet. Auch in Zeiten von Corona. Und vermutlich auch danach.
Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/180069
______________________________________________
1 Dieser Artikel entstand in Co-Autorinnenschaft von Sheena Anderson und Sandra Dürr, beide Studentinnen im Master Friedensforschung und Internationale Politik an der Universität Tübingen. Sheena Anderson ist außerdem Anti-Bias Multiplikatorin und Sandra Dürr arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am IZEW.