Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2016: Leute

Die Aufgabe der Wissenschaft und die Würde der Praxis

Zum Tode von Professor Dr. Andreas Flitner ein Nachruf von Peter Fauser und Jürgen John

Am 28. Mai 2016 ist in Tübingen im Alter von 93 Jahren der gebürtige Jenenser Andreas Flitner gestorben. Flitner war von 1958 bis zu seiner Emeritierung 1988 Professor für Pädagogik an der Universität Tübingen und im Rahmen eines Jenaer-Tübinger Partnerschaftsvertrages seit 1990/91 Gast- und Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Das Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen ist dank Flitners maßgeblicher Beteiligung zu einer der wichtigsten pädagogischen Bildungsstätten der alten Bundesrepublik geworden. An der Jenaer Universität trug er wesentlich zur demokratischen und pädagogischen Erneuerung und zum Aufbau eines neuen erziehungswissenschaftlichen Instituts anstelle der aufgelösten Sektion Erziehungswissenschaft bei. Bis 1997 wirkte er bei Berufungen und in der akademischen Selbstverwaltung mit. Das thematische Spektrum seiner Vorlesungen und Seminare reichte von der Bildungstheorie Humboldts über Reformpädagogik, Entwicklung und Aufbau des Schulwesens bis zu Kinderspiel und Kinderzeichnungen. Ebenso engagierte sich Flitner für den Neuaufbau der Jenaer Schullandschaft. Er unterstützte bildungspolitische Basisinitiativen und stärkte dabei vor allem den Jenaer Akteuren des „reformpädagogischen Aufbruchs“ den Rücken. Flitner gehörte zu jenen bundesdeutschen Erziehungswissenschaftlern, die sich an der seit Januar 1990 vom „Arbeitskreis Alternative Pädagogik“ veranstalteten Vortragsreihe beteiligten. Er sprach dabei über „praktisches Lernen“ und „demokratisches Handeln in Schulen“. In den folgenden Jahren hat er den Aufbau der Jenaer Reformschulen aktiv gefördert. Für die Jenaer Protagonistinnen und Protagonisten dieser Jahre waren seine weitgespannte Bildung, seine humane Gesinnung und seine große politische Erfahrung von unschätzbarem Wert. In den vielfältigen – universitären wie außeruniversitären - Aktivitäten des „Jena-Helfers Andreas Flitner“ (so das „Schwäbische Tagblatt“ am 28.11.1991) spiegeln sich wichtige Schwerpunkte seines wissenschaftlichen, reformpolitischen und reformpädagogischen Lebenswegs und Wirkens wider. Nicht zuletzt verweisen diese auf seine „Jenaer Wurzeln“.


Andreas Flitner wurde am 28. September 1922 in Jena geboren. Sein jüdischer Großvater Siegfried Czapski war engster Mitarbeiter und Nachfolger Ernst Abbes als Geschäftsführer der Carl-Zeiß-Stiftung. Sein Vater Wilhelm Flitner baute von Jena aus maßgeblich die Volkshochschul-Bewegung mit auf, bevor er später eine Pädagogik-Professur in Hamburg übernahm. Dass sein Sohn Andreas ebenfalls Erziehungswissenschaftler wurde, war zunächst keineswegs absehbar. Andreas Flitner begann nach dem Abitur 1940 ein politisch unverfängliches Maschinenbaustudium, ehe er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Von 1945 bis 1950 studierte er in Hamburg, Heidelberg und Basel Philosophie, Deutsch und Geschichte. 1952 promovierte er bei dem Historiker Werner Kaegi in Basel mit einer Arbeit über Erasmus von Rotterdam. Es folgten Stationen als Tutor im Leibniz-Kolleg Tübingen, als Lektor für deutsche Sprache an der Universität Cambridge und als Lehrer am Tübinger Uhland-Gymnasium. Habilitiert wurde Flitner mit einer Untersuchung über die Geschichte der politischen Bildung bei Eduard Spranger und Hans Rothfels. Nach kurzer Tätigkeit als Professor an der Universität Erlangen wurde Flitner 1958 an die Universität Tübingen berufen, wo er mit einigen Unterbrechungen – u.a. als Gastprofessor in Evanston/Illinois 1967 – blieb. Andreas Flitners Lehrveranstaltungen und Veröffentlichungen galten Fragen der Allgemeinen Pädagogik, der Bildungsgeschichte, der Bildungspolitik sowie den Erziehungsproblemen des Kindes- und Jugendalters. Er wirkte in zahlreichen Gremien, Institutionen und Stiftungen mit und fungierte als Herausgeber („Zeitschrift für Pädagogik“, Werke Comenius‘ und Wilhelm v. Humboldts). Es war für Flitner Herausforderung und Lebensglück zugleich, dass er nach der Emeritierung und dem Fall der Mauer in seiner Geburtsstadt Jena ein neues und aufregendes Arbeitsfeld gefunden hat, das reiche Früchte getragen hat. Seine “Jenaer Vorlesungen“ über die Reform der Erziehung im 20. Jahrhundert gehören zu den wichtigsten Beiträgen zu einer aktualisierten, demokratisch erneuerten Reformpädagogik.


Über die akademische Welt hinaus war Andreas Flitner als Begleiter, Berater und Förderer mit zahlreichen pädagogischen und demokratischen Reforminitiativen eng verbunden. Er suchte nie das Rampenlicht, zögerte aber nicht, in der politischen Öffentlichkeit Gesicht zu zeigen und auch in umstrittenen Fragen Position zu beziehen. Ein Mutbürger. In Tübingen war Flitner 1965 einer der Initiatoren der bundesweit ersten Ringvorlesung über die Rolle der Universität im Nationalsozialismus. Später engagierte er sich in der westdeutschen Friedensbewegung und nahm 1983 an den - dann gerichtlich geahndeten – Protestblockaden gegen atomare Nachrüstung in Mutlangen teil. 1989 gründete Flitner (zusammen mit Hildegard Hamm-Brücher und Peter Fauser) das bundesweite Förderprogramm "Demokratisch Handeln", das seit 1993 seinen Sitz in Jena hat und beispielhaft für Flitners pädagogisches Credo steht: „Politische Bildung“ - Thema seiner Tübinger Habilitationsschrift - gewinnt ihren allgemeinen Lebenssinn, ihre Bildungsbedeutung für den Einzelnen und ihren gesellschaftlichen Wert erst im praktischen Tun, im Engagement für das Gemeinwesen – im „demokratischen Handeln“. Die pädagogische Praxis ist die eigentliche Aufgabe pädagogischer Forschung und Wissenschaft. Ohne Zweifel war es die Erfahrung des Krieges und der NS-Zeit, die den geisteswissenschaftlich ausgebildeten Pädagogen immer wieder nach dem humanen Sinn und der praktischen Nutzen von Forschung und Bildungspolitik hat fragen lassen – so in seiner Streitschrift „Missratener Fortschritt“ von 1977, in der er sich mit großer Schärfe gegen die technologisch-bürokratischen Fehlentwicklungen in der bundesdeutschen Bildungspolitik wandte. 1978 hat er seiner Zunft, der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, bei ihrem Tübinger Kongress die Frage ins Stammbuch geschrieben, ob sie eine “Wissenschaft für die Praxis“ sei. Flitner hat durch seine Arbeit gezeigt, was damit gemeint war und wie es geht, die “Dignität“ der Praxis, wie Schleiermacher dies am Beginn der Moderne ausgedrückt hat, also deren eigene Ursprünglichkeit und Würde, wissenschaftlich ernst zu nehmen.

Zu dieser Haltung – sich immer wieder klarzumachen, dass es in der Erziehung keine Rezepte gibt, sondern dass sie sich mitsamt ihrer Wissenschaft stets neu den Fragen der Zeit stellen muss, hat auch beigetragen, dass Flitner sich - gleichsam Gegenpol zu seiner persönlichen Bescheidenheit und Zurückhaltung – einer unbändigen Neugier und einer leidenschaftliche Liebe zur Kunst erfreute. Vielleicht war es dieser Sinn für die Wunder von Erfindergeist, Originalität und schöpferischer Begabung, die ihn dazu befähigte, sich auf Menschen unterschiedlichster Herkunft und Profession, mit Feuerköpfen, Querdenkern und schwerblütigen Grüblern gleichermaßen einlassen zu können – und für seine Gabe, mit Kindern und angesichts ihrer Lebensäußerungen immer wieder zu staunen. Flitner hat eine große Schar akademischer Söhne und Töchter “aufgezogen“ und ins Leben entlassen. Sein Beitrag zu einem biografischen Sammelband über “Pädagogen der Gegenwart“ trägt den bezeichnenden Titel “Gruppenbild statt Einzelporträt“. Zu seinem Leben gehört aber keineswegs nur akademischer Nachwuchs: Von Andreas Flitner und seiner Frau Sonia, geb. Christ, die sich in Basel kennengelernt haben, stammen sieben Kinder und neun Enkelkinder ab. „Familiensinn“ bewies er in seiner Jenaer Wirkungszeit seit 1990 auch auf andere Art, die mit seiner Liebe zur Geburtsstadt Jena zusammenhängt, in der ein Teil der Flitner-Familie stets gelebt hat. Seinem Großvater, Siegfried Czapski galt Andreas Flitners letzte wissenschaftliche Arbeit – eine Brief-, Schriften- und Dokumenten-Edition (gemeinsam mit Joachim Wittig). An der Enthüllung der Gedenktafel für den Vater Wilhelm nahm der Sohn Andreas - beide gelten als herausragende Pädagogen des 20. Jahrhunderts – selbst teil. Dem maßgeblich von Abbe, der Familie Czapski und ihrem Umfeld geprägten „Jenaer Modell“ hat Andreas Flitner (gemeinsam mit Jürgen John) in einer Schrift gedacht. In den letzten Jahren seines langen Lebens litt Andreas Flitner unter einer schweren Parkinson-Erkrankung. Bis zuletzt hat er die Nachrichten aus Jena mit aufmerksamer Zuneigung und herzlicher Verbundenheit verfolgt.

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