Körperliche und kognitive Prozesse hängen zusammen
Der Ansatz der Bildungsforscherin basiert auf der Theorie der „embodied numerosity“ (verkörperte Numerosität). Diese besagt, dass abstrakte mathematische Konzepte auch aus körperlichen Interaktionen mit der Umwelt entstehen, beispielsweise durch Zählen und Rechnen mit den Fingern und lautes Aussprechen der Zahlen. „Motorische und sensorische Fähigkeiten, Sprache und weitere kognitive Prozesse wirken wechselseitig. Wie Finger und Zahlen genau zusammenspielen, ist aber noch unklar“, erklärt Rösch. „Deshalb untersuchen wir, wie Feinmotorik und Fingergnosie – die Fähigkeit, die eigenen Finger ohne Hinzusehen wahrzunehmen – frühe mathematischen Fähigkeiten beeinflussen.“
Hinsichtlich einer praktischen Förderung mathematischer Fähigkeiten sei ein Knackpunkt, dass die Kinder ein Teil-Ganzes-Verständnis entwickeln. „Es kommt darauf an, Zahlen als Mengen zu verstehen, die sich wiederum in Teilmengen zerlegen lassen.“ Die Kinder sollen mit allen Sinnen erfassen, wie sich die Zahlen bis zur Zehn zusammensetzen. Das erleichtert es ihnen, eine gute Rechenfähigkeit aufzubauen und vom bloßen zählenden Rechnen wegzukommen.
Rösch veranschaulicht das anhand der Szene, die wir eben beobachtet haben. „Karl hat eine Sieben gewürfelt. Diese lässt sich in die Bestandteile Vier und Drei strukturieren; so, wie es die Würfel gezeigt haben. Karl soll nun aber nicht an einer Hand drei Finger und an der anderen vier ausstrecken, sondern eine bestimmte Fingersystematik nutzen, um die Mengen darzustellen: am Daumen einer Hand beginnend, bis an dieser alle fünf Finger ausgestreckt sind. Dann weiter am Daumen der anderen Hand.“ In den vorangegangenen Spielen hatten die Kinder zunächst gelernt, die Fingermengen erst zählend mit der Handinnenfläche nach oben zu bilden und dann die Handfläche nach unten auf den Tisch zu drehen. Das macht die Anzahl als Ganzes gut wahrnehmbar. Aber jetzt, gegen Ende der Förderung, kennt Karl die Fingermengen schon gut, deshalb muss er sie nicht mehr zählend bilden, sondern kann die entsprechenden Finger auf einmal ausstrecken.
„Das ist der entscheidende Schritt, der zu Beginn nicht einfach ist“, sagt Rösch. „Aber wenn die Kinder die immer gleichen Fingermengenbilder formen, fällt es ihnen am Ende leichter, ein Teil-Ganzes-Verständnis zu entwickeln. Dann reicht ein Blick, um zu erfassen: Sieben besteht aus fünf und zwei ausgestreckten Fingern und von der Sieben fehlen noch drei Finger, bis alle zehn ausgestreckt sind.“