Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2022: Schwerpunkt

Wir brauchen eine pro-aktive China-Strategie

Ein Interview mit dem Tübinger Sinologen und Taiwan-Experten Professor Gunter Schubert

Sind Forschungskooperationen in und mit Ländern mit autoritären Regimen möglich? – Diese Frage wird in den letzten Monaten in Bezug auf die China-Forschung vehement diskutiert, in Deutschland und auch auf internationaler Ebene. Im Interview erläutert der Tübinger Sinologe Gunter Schubert, unter welchen Voraussetzungen aus seiner Sicht Forschungskooperationen mit China möglich sind.

Welche Strategie verfolgt die chinesische Wissenschaftspolitik?

Im Jahr 2049 begeht die Volkrepublik China den 100. Jahrestag ihrer Gründung. Bis zu diesem Datum will China zu einer vollentwickelten, „starken“ Nation werden, die mit den USA auf jeder Ebene mithalten kann. China strebt Autarkie auf allen gesellschaftlichen Feldern an. Aus diesen Gründen investiert die chinesische Führung seit Jahren sehr viel Geld, auch in die Wissenschaft.

Wie ist die Tübinger Chinaforschung aufgestellt? 

Die Chinaforschung an der Universität Tübingen ist sehr gut aufgestellt und hat international einen hervorragenden Ruf. Im Unterschied zu anderen Standorten haben wir ganz bewusst kein Konfuzius-Institut eingerichtet. Zur Erklärung: Konfuzius-Institute sind vom chinesischen Staat finanzierte Kulturinstitute, die mit den Sinologien der deutschen Hochschulen zusammenarbeiten und deshalb häufig innerhalb einer Universität angesiedelt sind. Das unterscheidet die Konfuzius-Institute strukturell von den deutschen Goethe-Instituten im Ausland. Es gibt zwar auch Konfuzius-Institute, die als eingetragener Verein nach deutschem Recht außerhalb der Universität gegründet wurden – aber die Verkoppelung mit den Universitäten vor Ort ist auch dann sehr eng. Es war stets Konsens im Rektorat, der Philosophischen Fakultät und der Sinologie hier in Tübingen, die amtliche chinesische Kulturpolitik nicht in die Universitas hineinzuholen. 

Dafür gibt es an der Universität Tübingen schon lange andere, sehr vielfältige Kooperationen mit China auf wissenschaftlicher Ebene. Wir haben viele Hochschulpartnerschaften nicht nur mit China, sondern auch mit Taiwan, Hongkong und Singapur. Das Verhältnis zu unseren Partnerhochschulen in China ist sehr gut und wir sind im Land hoch angesehen. 

Mit dem China Centrum Tübingen (CCT), der anstehenden Beteiligung der Sinologie an dem European Chinese Language and Culture Programme (ECLC) an der Peking Universität, dem Lehramtsstudiengang Chinesisch sowie dem European Research Center on Contemporary Taiwan (ERCCT) unterhält Tübingen intensive Kontakte nach China und Taiwan. Neu ist die Triple Alliance, die die Universität Tübingen zusammen mit der Freien Universität Berlin und der Peking-Universität im Frühjahr 2021 ins Leben gerufen hat. Diese vom CCT mit-koordinierte Allianz soll die an den drei Hochschulen betriebene Regionalforschung fördern und gemeinsame Formate für den wissenschaftlichen Austausch entwickeln. 

Die Tübinger Taiwanforschung wird auch in China respektiert, da unser Zentrum streng wissenschaftlich arbeitet und sich politisch nicht vereinnahmen lässt. Taiwan als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist für China kein Problem – auch in China selbst gibt es Taiwanforschung. In unserem Zentrum sitzen Taiwanforscher aus China und Taiwan nebeneinander und nehmen gemeinsam an den taiwanbezogenen Veranstaltungen des ERCCT teil. An den realen politischen Konflikten in der Taiwanstraße ändert das natürlich nichts, aber immerhin gelingt es uns hier in Tübingen, junge Forschende aus China und Taiwan miteinander ins Gespräch zu bringen. 

Wichtig ist: Die China-Forschung in Tübingen beschränkt sich keinesfalls auf die Sinologie, diese macht nur einen Teil davon aus. Viele intensive und groß angelegte Kooperationen mit China gibt es auch in anderen Fächern, nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, teilweise bereits seit Jahrzehnten. 

In einem Beitrag in der FAZ vom 9. März 2022 haben Sie den Kritikern Ihrer China-Forschung „moralisches Kreuzrittertum“ vorgeworfen. Worum geht es in dem Streit?

Auslöser für unseren FAZ-Artikel, den mein Kollege Björn Alpermann von der Universität Würzburg und ich verfasst haben, ist ein größerer Zusammenhang: Die Wissenschaftskooperation mit China, wie auch die Chinaforschung selbst, werden seit geraumer Zeit einer zunehmend moralisierenden Kritik unterworfen. 

Auch für unser Fach müssen wir konstatieren, dass China-kritische Stimmen aktuell Konjunktur haben; es gibt ein einflussreiches anti-chinesisches Narrativ in Deutschland. Eine zunehmende Zahl von Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten sowie auch einigen Chinawissenschafterinnen und -wissenschaftlern ist der Auffassung, dass die gegenwartsbezogene China-Forschung von moralisch-ethischen Kriterien bzw. „westlichen Werten“ geleitet sein muss, die  auch die Zusammenarbeit mit China bestimmen sollen. Gegen diesen Rigorismus und die damit einhergehende normative Konditionierung der Chinaforschung wehren wir uns. Egal welches Regime in China den Ton angibt: Unsere Aufgabe als Wissenschaftler bleibt es, Wissen über China zu schaffen. Natürlich dürfen wir moralische Aspekte nicht beiseitelassen, aber Chinaforschung darf nicht unter das Joch von „moralischen Eignungsprüfungen“ für Forschende geraten. Auf diesem Weg befinden wir uns aber gerade.

Björn Alpermann und ich gehören gewiss nicht zu den Wissenschaftlern, die den für China politisch sensiblen Themen aus dem Weg gehen: Er hat gerade ein Buch zur Region Xinjiang veröffentlicht und ich schreibe seit meinem Studium über die „Taiwan-Frage“. Deswegen gibt es auch keinen Anlass, uns und viele andere, die die politischen Dimensionen des chinesischen Autoritarismus untersuchen, in die Ecke „wertfreier China-Versteher“ zu stellen.

Es geht bei der Debatte letztendlich um eine grundsätzliche Frage: wie soll man über China, ein autoritäres, vielerorts die Menschenrechte verletzendes Regime, forschen? Wie sollen Forschende sich dabei positionieren – zwischen der Verpflichtung, Wissen zu schaffen und dem Anspruch, eine ethisch-orientierte Wissenschaft zu betreiben?

Die Debatte wird inzwischen international geführt, sie ist auch in China angekommen. In Deutschland wird sie mit teilweiser großer Härte geführt, vor allem in den sozialen Medien. Wir brauchen diese Debatte. Allerdings muss sie sachlich und von Respekt gegenüber allen Beteiligten geprägt sein.

Ist aus Ihrer Sicht Forschung in Ländern mit autoritären Regimen möglich?

Die Hochschulen in autoritär regierten Ländern sind nicht eins zu eins gleichzusetzen mit den jeweils dort herrschenden Regimen – das gilt auch für China. Trotzdem wirken diese Regime in die Hochschulen hinein. Gleichzeitig wissen die chinesischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz genau, dass ohne das Postulat freier Wissenschaft kein Erkenntnisgewinn und keine Kooperation mit dem Ausland möglich sind. Ich sehe hier ein Spannungsfeld zwischen Regime und Universitäten. Deswegen beziehe ich auch in der öffentlichen Debatte eindeutig Stellung dafür, dass die Hochschulkooperationen mit China erhalten bleiben müssen – solange die Prinzipien seriöser Wissenschaft und wissenschaftsethischer Verantwortung gewahrt sind. Das müssen wir ständig überprüfen und genau dies muss auch ein Ziel unserer universitären Chinastrategie sein.

Ein Vorwurf Ihrer Kritiker lautet, dass China-Forschung zu abhängig von chinesischen Finanzierungsquellen ist.

Zunächst müssten diese Kritiker erst einmal Beweise dafür vorlegen, dass es diese Abhängigkeiten tatsächlich gibt und wie weit sie reichen. Genau dies aber bleiben sie schuldig. Tatsächlich liegt der Anteil der chinesischen Finanzierung an deutschen Hochschulen weit unter einem Prozent dessen, was die Universitäten insgesamt an Drittmitteln und sonstiger Hochschulförderung bekommen. Auf diesen Umstand weisen die „Kreuzritter“ nicht hin, weil er nicht in ihr Argumentationsschema passt. Hier wird viel mit Suggestion und teilweise auch einfach falschen Behauptungen gearbeitet. Das schadet einer seriösen, sehr wohl notwendigen Diskussion über die Sache. Und in einem hat die Kritik auch Recht: Die Universitäten sollten insgesamt transparenter hinsichtlich ihrer Mittelzuflüsse aus „probematischen“ Ländern sein; das gilt dann aber nicht nur für China.

Weiterhin behaupten unserer Kritikerinnen und Kritiker sinngemäß: „Wenn ihr in China Forschung betreibt, werdet ihr korrumpiert. Denn um eure Forschung machen zu können, müsst ihr euch so verbiegen, dass die von euch erhobenen Daten nichts mehr wert sind.“ Diese Kritik weisen wir zurück, denn sie kommt ohne empirische Belege daher und negiert zudem die methodische Reflektionsfähigkeit und Professionalität der Sinolog*nnen. Ich arbeite seit über 30 Jahren in China, und natürlich ist die Situation dort heute komplizierter als vor der Ära Xi Jinping, die 2012 begann – aber Restriktionen gab es immer. So muss man bestimmte Forschungsstrategien entwickeln, um valide Daten erheben zu können, oft gemeinsam mit den chinesischen Kooperationspartnern. Die sozialwissenschaftlich arbeitende Chinaforschung nimmt zu Recht für sich in Anspruch, die Kompetenz und Erfahrung zu besitzen, um in einem solchen System solide wissenschaftliche Arbeit leisten zu können! Und die lassen wir uns nicht einfach absprechen, schon gar nicht von Leuten, die selbst eine solche empirische Forschung gar nicht betreiben, sondern sie lediglich von außen kommentieren. 

Wo ich unseren Kritikerinnen und Kritikern zustimmen kann: man muss bei der Arbeit in und zu China vorsichtig sein. Wenn wir mit staatlichen oder staatsnahen Stellen zusammenarbeiten, laufen wir Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Trotzdem ist diese Zusammenarbeit häufig notwendig, um überhaupt Zugang zum Forschungsfeld zu bekommen. Hier liegt eine Spannung, der die Chinaforschung nicht aus dem Weg gehen kann. Sie deshalb pauschal als „gekauft“ zu diskreditieren, ist unprofessionell, weil uninformiert. Jeder Chinawissenschaftler und jede Chinawissenschafterin weiß: Wer keine angemessene Methodenreflektion betreibt und die Grenzen der Belastbarkeit von in China erhobenen Daten nicht offenlegt, hat Probleme. Da steht dann ganz schnell die wissenschaftliche Reputation auf dem Spiel. 

Wie sollte die zukünftige China-Strategie der Universität Tübingen aussehen?

Die Kritik an China wird nicht aufhören. Wir benötigen daher für die Zukunft eine klare Handlungs- und Kommunikationsstrategie. Wir brauchen für die Zusammenarbeit mit China zudem klare Kriterien mit konkreten Handlungsempfehlungen. Wir müssen auf Kritik an unserer Zusammenarbeit mit China aus dem öffentlichen Raume schnell reagieren können: wofür steht die Universität Tübingen, welche Kooperationen mit China gibt es, wie sind diese finanziert und wie werden sie ethisch evaluiert? Nur mit soliden Fakten können wir denjenigen begegnen, die mit Ängsten und Emotionen suggerieren wollen, die Hochschulkooperation mit China sei politisch „gelenkt“. Es geht nicht darum, Kritikerinnen und Kritiker mit ihren berechtigten Anliegen zu diffamieren, sondern klar zu signalisieren, warum die Zusammenarbeit mit China wichtig ist und was an den Hochschulen getan wird, ihre wissenschaftliche Seriosität und wissenschaftsethische Glaubwürdigkeit zu garantieren. Ich hatte bereits zu Beginn des Jahres dem Rektorat der Universität Tübingen empfohlen, dass das CCT hierbei zukünftig eine wichtige Rolle spielen könnte, als inneruniversitäre „Koordinierungsstelle China“. Diesem Vorschlag ist das Rektorat im Prinzip gefolgt. Damit ist eine wichtige Voraussetzung geschaffen, unseren wissenschaftlichen Austausch mit China öffentlich überzeugend zu begründen – beziehungsweise auch eine Einschränkung oder Beendigung von Kooperationen, sollte dies zukünftig erforderlich werden. 

Das Interview führte Maximilian von Platen