Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2023: Leute

Die Professionalisierung des Faches Religionswissenschaft

Zum Tod von Burkhard Gladigow ein Nachruf von Christoph Auffarth und Alexandra Grieser

Am 16. Dezember 2022 verstarb einer der Großen der universitären Religionswissenschaft, Burkhard Gladigow. Seine wegweisenden Ideen zur Professionalisierung und ihre nachhaltige Umsetzung machten aus einem Fach der Liebhabenden und Übersetzenden Heiliger Texte eine Kulturwissenschaft. Er kam selbst aus der Philologie, der Gräzistik, und wurde ganz jung, gerade 23 Jahre geworden, promoviert bei Hildebrecht Hommel in Tübingen. Aber sein Ziel, das er über die Jahre gemeinsam mit seinem Kollegen, Hubert Cancik (und Hildegard Cancik-Lindemaier nicht zu vergessen) verfolgte, war eine Religionswissenschaft, die nicht mehr die Diskussion abwehrte, weil Religion ein Gegenstand sui generis sei, sondern bewusst öffnete zur gemeinsamen Arbeit an Problemen der Gesellschaft im Gespräch mit anderen Kultur- und Humanwissenschaften.

So beschäftigte er sich mit dem Ort der Religion in der Evolution Bezug nehmend auf die theoretische Biologie, so besonders im Aufsatz 1984 Die Teilung des Opfers. Die erste Institutionalisierung waren die Ringvorlesungen für Hörerinnen und Hörer aller Fakultäten; von den zehn wurden acht auch publiziert. Themen waren etwa: Rausch, Ekstase, Mystik. Grenzformen religiöser Erfahrung (hrsg. Cancik 1978) oder »Vor Gott sind alle gleich«. Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen (hrsg. Kehrer 1983). Gladigow gab Religion und Moral 1976 und Staat und Religion 1981 heraus. Dazu kam die Beteiligung an anderen interdisziplinären Konferenzen wie der Band zur Apokalyptik (Hellholm 1983) oder Der Untergang von Religionen (Zinser 1986). Eine andere Reihe Forum Religionswissenschaft erprobte die Disziplin innerhalb der Kulturwissenschaften. Hans Kippenberg wurde ein wichtiger Gesprächspartner, auch mit seinen Konferenzen zu Visible Religion. Mittlerweile war die Sezession aus der Philologie in ein eigenes Fach Religionswissenschaft in der Universität erfolgt (1974; Ordinarius wurde Gladigow 1992), unterstützt von der Indologie, die sich mit Heinrich von Stietencron (seit 1973) ebenfalls mit religionswissenschaftlichen Themen befasste. Die Tübinger Kombination vereinigte so die klassische Tradition des Fachs, wobei die Erforschung der griechischen Religion immer Impulse zur Methode und Theorie beigetragen hatte, mit einem neuen Zugang (der die Systemtheorie aufnahm), hinein in den Fachbereich Kulturwissenschaft. Dazu kam 1980 als Kollege der Religionssoziologe Günter Kehrer. In der Selbstverwaltung der Universität diente Gladigow als Dekan und als Vizepräsident.

Die nächsten großen Schritte hin zur Professionalisierung einer eigenen Disziplin waren die Gründung der Zeitschrift für Religionswissenschaft, Band 1 (1993) und, ganz besonders, Gladigows Beitrag zur Etablierung einer fachspezifischen Begrifflichkeit, im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (5 Bände, 1988-2001). Gesucht waren Begriffe, die ohne essentialistische Definitionen davon auskommen, was religiös, was nicht-religiös in einer spezifischen Kultur sei. Für den Nachdruck 2022 haben die Canciks das Ziel der Entwicklung einer wissenschaftlichen Metasprache erläutert, die nicht mehr christliche Begriffe als Messlatte für andere Religionen verwendet. Im ersten Band ist eine Ausdifferenzierung des Faches eröffnet. Der legendäre Artikel von Gladigow riss Zäune zwischen Gärten ein, die Disziplinen gerne als den ihren reklamieren, in dem andere nicht wildern dürften: "Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft" (1988). Als seine Schüler komplementär zu den "Grundbegriffen" im Metzler Lexikon Religion. Gegenwart, Alltag, Medien (4 Bände, 1999-2002, englisch 2006) in einem religionswissenschaftlichen Lexikon beschrieben, steuerte er Artikel bei zu dem angeblichen Gegensatz von Naturwissenschaften und Religion oder den Oberbegriff "Sinn".

Gladigow eröffnete neue Felder mit Konzepten für die religionswissenschaftlichen Perspektiven auf Bildwissenschaft/Ikonologie und die Medienwissenschaft; auch die Vision, dass Religionswissenschaft und Kognitionswissenschaft voneinander lernen können; oder eine Religionsästhetik (der große Wurf von Cancik und Hubert Mohr, HrwG 1, 1988), eine Religionsökonomie, ja, eine Religionspharmakologie sinnvolle akademische Unternehmungen seien. Ein großer Wurf war auch das Konzept 1993 einer Europäische Religionsgeschichte, die nicht mehr auf christliche Kirchengeschichte eingegrenzt ist, sondern Pluralität von Sinnstiftern als Merkmal sie auszeichne. Das waren mehr als Ideen, diese Konzepte und ihre beharrliche Ausarbeitung haben die Ausdifferenzierung der deutschen Religionswissenschaft vorangetrieben und sowohl theoretisch als auch methodologisch grundgelegt.

Auch standortübergreifend setzte sich Gladigow für die Unabhängigkeit und ihre Ausarbeitung des Faches ein und wurde so 1997 zum Vorsitzenden der Fachvertretung gewählt. Im Vorstand der DVRW setzte er sich mit seinem Nachfolger Hubert Seiwert ein für die Umbenennung der wissenschaftlichen Standesvertretung der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft anstelle des traditionellen Begriffs Religionsgeschichte (als Teil der International Association for the History of Religions IAHR). Denn neben der 'Geschichte' bzw. den Area-Studies für die 'fremden' Religionen umfasst das Fach die Religionssoziologie, die Erforschung der Gegenwartsreligionen, die Europäische Religionsgeschichte, die Religionsästhetik, die Religionstheorie u.a.

Gladigows Verdienste als Vorsitzender wurden gewürdigt mit der Ehrenmitgliedschaft der DVRW. Seine Konzepte wurde in einem Sammelband von Kolleg*innen und Schüler*innen – gewissermaßen die Tübinger Schule der Religionswissenschaft – erprobt und weiterentwickelt, zuletzt in einem Band, der eine Art Motto Gladigows zur Überschrift gewählt hat: Religion in der Kultur – Kultur in der Religion. Burkhard Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel (Auffarth, Grieser, Koch 2021 bei Tübingen University Press erschienen). Für die Rezeption im angelsächsischen Bereich haben Alexandra Grieser und Anne Koch eine Beschreibung der wissenschaftlichen Innnovationen Gladigows unternommen. Dort ist auch eine Gesamtbibliographie seiner Schriften enthalten, S. 399-415. Mit seinen Aufsätzen hat er die Maßstäbe gesetzt für die (distanziert-kritische) Religionswissenschaft. Die Religionswissenschaft heute steht wesentlich auf den Schultern des Riesen, in gemeinsamer Arbeit mit Hubert Cancik, der systematischen Ordnung der Disziplin durch Burkhard Gladigow.

Als Lehrer war Gladigow nicht nur Vermittler von Wissen und Wissenshorizonten; er hat vor allem gelehrt, was mit solchem Wissen anzufangen sei, wenn es zu interessanten und neuen Frage- und Problemstellungen (im Weberschen Sinne) führt. Für seine Doktorand*innen nahm er sich immer Zeit, ließ sich auf die vorgetragenen Ideen ein, orientierte sie in größere Zusammenhänge, eröffnend, großzügig, niemals limitierend. Bei allem Selbstbewusstsein war er immer unterstützend und blieb humorvoll distanziert, auch zu sich selbst. Auch darin eine Größe.