Uni-Tübingen

Forschungsprogramm

In jüngster Zeit erleben ästhetische Fragen eine überraschende Konjunktur. Öffentliche, z.T. hitzige Diskussionen rund um Fragen von Kunst und ästhetischer Wirkung lassen aufhorchen. Doch nicht nur die öffentliche Diskussion, auch die jüngere Forschungslandschaft ist von dieser Konjunktur betroffen. Verschiedentlich wurde der ‚aesthetic turn‘ ausgerufen. Dieser hat sich  jedoch – scheinbar paradox – vor allem in Forschungsfeldern außerhalb der Geisteswissenschaften vollzogen: In den Gesellschaftswissenschaften etwa wurden die Ausdehnung ästhetischer zu sozialen Praktiken, die politische Indienstnahme der Kunst oder ästhetisch-epistemologische Grenzdiskurse thematisiert; Neurowissenschaften und Biologie haben die grundsätzliche Kunst-Disposition des Menschen empirisch zu belegen versucht. Die genannten Forschungsansätze reagieren dabei offenkundig auf ein neues Bedürfnis nach und Interesse an Ästhetik. Sie greifen dazu jedoch häufig auf ästhetische Prämissen zurück, die sich ausgesprochen oder unausgesprochen Autonomiekonzepten des 18. und beginnenden 19. Jh.s verdanken. Gerade damit aber droht die Frage nach der Funktion der Kunst in sozialer wie anthropologischer Hinsicht wieder aus dem Blick zu geraten.

Umso dringlicher erscheint es, alternative ästhetische Praktiken, Manifestationen und Konzepte zu entdecken und zu reflektieren, die nicht von autonomieästhetischen Positionen ausgehen. Eine solche ,andere‘ Ästhetik lässt sich – so die These des Forschungsprojekts – in hervorragender Weise in der Vormoderne finden, d.h. vor dem Zeitalter der philosophischen Ästhetik. Gerade von einer ‚Ästhetik vor der Ästhetik‘ können – wie zu zeigen sein wird – entscheidende Impulse für ästhetische Fragestellungen auch in unserer Gegenwart ausgehen. Daher setzt der SFB eben hier mit seinem genuin geisteswissenschaftlichen Programm an: Es greift dabei (1) die Debatte um die sozio-anthropologische Unhintergehbarkeit des Ästhetischen auf, wie sie die Gesellschafts-, Lebens- und Neurowissenschaften aufgeworfen haben, korreliert sie aber (2) mit einer Grundlagendiskussion über das Verständnis ästhetischer Prozesse, das (3) konsequent aus der dynamischen Wechselwirkung zwischen technisch-artistischer Eigenlogik (autologische Dimension) und sozialer Praxis (heterologische Dimension) gewonnen werden soll.

Um diese Wechselwirkungen analytisch erfassen zu können, entwirft der SFB das Modell einer praxeologischen Ästhetik, in dessen Zentrum das Konzept der ‚ästhetischen Reflexionsfigur‘ steht. Damit bietet das Projekt ein neuartiges heuristisches Instrument an, mit dem sich die dynamischen Verflechtungen zwischen beiden Dimensionen differenziert und umfassend beschreiben lassen. Ziel ist es somit zum einen, über das interdisziplinär und international anschlussoffene Forschungsprogramm des SFB zu einer veränderten Bewertung des Beitrags vormoderner ästhetischer Akte und Artefakte innerhalb der Ästhetikforschung zu gelangen. Ziel ist es zum anderen, auf dieser Basis die gegenwärtigen Debatten um die Relevanz des Ästhetischen durch eine historische Tiefenperspektive zu fundieren, von der aus sich auch aktuelle Fragen von Kunst und Gesellschaft besser verstehen und gewinnbringend weiterentwickeln lassen.