Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2021: Forum

„Fremdheit wurzelt in einer Erfahrung der Überraschung, des Erstaunens oder auch Erschreckens“

Ein Interview mit dem Philosophen Bernhard Waldenfels, Lucas-Preisträger 2021

Der Dr. Leopold Lucas-Preis der Universität Tübingen geht 2021 an den Philosophen Bernhard Waldenfels. Das Vergabekomitee würdigt damit sein Werk, das die Bedingungen und Möglichkeiten des Verstehens von Fremdem auslotet. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird jährlich von der Evangelisch-Theologischen Fakultät verliehen. 

Bernhard Waldenfels (geb. 1934 in Essen) ist emeritierter Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Philosophen, insbesondere im Bereich der Phänomenologie. Sein Werk, das mehr als 20 Bände umfasst und interdisziplinär rezipiert worden ist, widmet sich hauptsächlich der Entwicklung einer „Phänomenologie des Fremden“. Waldenfels gelinge es, die Kategorie der „Alterität“, also des kulturellen Andersseins, durch die Perspektive der Fremdheit neu zu lesen, sagte die Jury des Lucas-Preises. „Er stellt sich der Herausforderung, einen phänomenologischen Diskurs zu entwickeln, mit dem sich erfassen lässt, inwiefern sich das Fremde im instabilen und pluralistischen Terrain der Erfahrung auf eine authentische Weise offenbart und dadurch erkennbar bleibt.“

Wolfgang Krischke hat Bernhard Waldenfels für den Newsletter Uni Tübingen aktuell zum Begriff der Fremdheit interviewt.

Herr Professor Waldenfels, Fremdheit und der Umgang mit ihr ist seit etwa vierzig Jahren eines Ihrer zentralen Forschungsgebiete. Was hat Sie motiviert, sich damit zu beschäftigen?

Ein Grund liegt in den Erfahrungen meiner Kindheit und Jugend. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und das war immer eine Zuwandererregion. In meiner Klasse gab es viele Schüler, deren Eltern ursprünglich einen polnischen Namen hatten. Den haben sie dann geändert, weil sie dazu gehören und nicht als „Polacken“ gelten wollten. Meine Herkunft hat mich also schon früh gelehrt, dass das Fremde zugleich Bestandteil des Alltags im eigenen Umfeld sein kann.

Momentan ist Fremdheit ein höchst aktuelles gesellschaftpolitisches Thema. Migranten lösen Fremdheitsgefühle in der Mehrheitsgesellschaft aus, aber auch innerhalb dieser Mehrheitsgesellschaft scheint die wechselseitige Fremdheit zuzunehmen. Auseinandersetzungen in den sozialen Netzwerken verlaufen oft sehr aggressiv, ein politisches Lagerdenken greift um sich. Wie stellen sich diese Entwicklungen aus der Sicht einer Philosophie der Fremdheit dar?

Fremdheit wurzelt in einer Erfahrung der Überraschung, des Erstaunens oder auch Erschreckens gegenüber jemandem, der von außen, aus einer andersartigen Ordnung  kommt und deshalb nicht ganz dazugehört. Diese Form der Fremdheit liegt zum Beispiel der Migrationssituation zugrunde. Aber was oft übersehen wird: Ich bin mir auch selbst bis zu einem gewissen Grade fremd. „Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Hause“, wie Freud es ausdrückt. Diese Fremdheit beginnt mit der eigenen Geburt, die man durchlaufen, aber nicht erlebt hat, sie setzt sich fort beim Namen, den man sich nicht selbst gegeben hat und bei der Muttersprache, die für das lernende Kind ja zunächst eine fremde Sprache ist. Auch die Fremdheit, die ich in anderen sehe, hat ihren Ursprung nicht darin, dass ich jemanden als fremd definiere, sondern darin, dass ich mich selbst von ihm angeblickt und angeredet weiß. Diese elementare Fremdheitserfahrung wird in der Schöpfungsgeschichte geschildert: Adam und Eva entdecken, dass sie nackt sind und schämen sich, denn sie sehen sich selbst plötzlich mit dem Blick des jeweils anderen, also mit einem fremden Blick. Das heißt, das Fremde existiert von vornherein auch in all dem, was uns als das Ureigene erscheint, und damit auch in der so vertrauten Gemeinschaft, der wir uns zugehörig fühlen und die wir in- und auswendig zu kennen meinen.  

Aber warum nimmt das Bedürfnis gesellschaftlicher Gruppen, eher die Fremdheit, das Trennende als das Gemeinsame zu betonen, augenscheinlich zu, so dass es mittlerweile sogar ein von der Bundesregierung finanziertes Forschungsinstitut „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ gibt? Die Kluft zwischen „Ossis“ und „Wessis“, um nur ein Beispiel zu nennen, scheint sich Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung eher noch zu vertiefen.  

Die Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen empfinden wir als besonders „befremdend“, weil alle Beteiligten sich als Deutsche fühlen und es formell ja auch sind. Und deshalb erbittert es viele Ostdeutsche, dass sie – ihrem Eindruck nach – trotzdem nicht richtig dazugehören. Teil des Problems ist das geringe Interesse vieler Westdeutscher, die nach Norden oder Süden, aber selten nach Osten fahren, obwohl Mitteldeutschland lange das kulturelle Zentrum ganz Deutschlands war. 

Was wäre zu tun?

Ich verwende den Begriff der „Fremdheitspolitik“ für die Art und Weise, wie man mit Fremden umgeht oder umgehen sollte. Und zu einer innerdeutschen Fremdheitspolitik würde gehören, dass die Westdeutschen auf diese fremden Gegenden überhaupt erst einmal aufmerksam werden, sich für sie interessieren. Interesse für das Fremde hat immer auch eine politische Dimension. Aber wie das Beispiel des Ruhrgebiets zeigt: Auch die Deutschen in Westdeutschland machen Fremdheitserfahrungen, auch hier ist die Zugehörigkeit immer nur relativ.  

Die Identitätspolitik, deren Konjunktur wir gerade erleben, beharrt ja darauf, dass jeder nur für seine eigene kulturelle, ethnische oder sonstwie definierte Gruppe sprechen soll und darf. Steht dahinter der Wunsch, die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu schützen?    

Die Basis der Identitätspolitik ist, dass man genau zu wissen meint, wer man ist und wer die anderen sind. Ich hingegen sehe den Begriff der „Identität“ kritisch, denn er bezeichnet nichts Originäres. Am Anfang der Erfahrung steht nicht die Identität des Selben, sondern das leibhaftige Selbst, also das mir unmittelbar Vertraute. Identität ist dagegen immer schon das Resultat einer Einordnung und Registrierung. „Identifizierung“ erfasst eben das, was noch nicht identisch ist. Die Identitätsvertreter denken immer, es gebe eine Substanz, einen Organismus, dessen Teil sie sind. Aber ein Kollektiv ist nichts, was ein Eigenleben, eine eigene Stimme hat. Es gibt kein Wir das „Wir“ sagt, sondern es ist immer ein Ich, das im Namen des „Wir“ spricht. Natürlich gehören wir alle bestimmten Kollektiven an, aber wir gehen darin nicht auf. 

Die westliche Moderne setzt auf den Universalismus. Die Menschenrechte sollen weltweit gelten, die Geschichte stellt man sich seit Hegel als einen universalen gesetzmäßigen Prozess des Fortschritts vor und der Kapitalismus setzt auf die Grenzenlosigkeit der Waren- und Geldströme. Wo bleibt da die Fremdheit? Verschwindet sie auf lange Sicht?

Universalität entsteht erst durch Universalisierung. Etwas wird als allgemein betrachtet, was es zunächst nicht ist, denn am Anfang steht immer nur Singuläres. Das gilt auch für die Menschenrechte, die zweifellos eine große Errungenschaft darstellen. Die Universalisierung hat unterschiedliche Facetten: Die Globalisierung, die wir heute erleben, ist eine technisch-ökonomische Form der Universalisierung und sie bringt die Gefahr der Ortlosigkeit mit sich. Wenn es egal ist, wo auf der Welt ich hinter meinem Computer sitze, dann gehen Singularität und auch Fremdheit verloren und das geht mit kulturellen Verlusten einher. Eine Reduktion auf eine weltweite Einheitssprache beispielsweise wäre ein ungeheurer Verlust. Eine Reaktion auf die negativen Aspekte der Globalisierung sind Renationalisierung und Provinzialismus: Man sucht wieder den Heimatboden, auf dem man ganz und gar zuhause ist. Aber das ist eine Illusion, denn auch dieser Boden ist mit Fremdheit durchsetzt wie zum Beispiel unsere so vertraute Muttersprache, deren Fremdwörter wir oft gar nicht als solche erkennen.

Der mit 50.000 EUR dotierte Dr. Leopold Lucas-Preis würdigt alljährlich hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Theologie, der Geistesgeschichte, der Geschichtsforschung und der Philosophie. Er ehrt dabei insbesondere Persönlichkeiten, die zur Förderung der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern wesentlich beigetragen und sich durch Veröffentlichungen um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht haben. Zu den bisherigen Preisträgern gehören namhafte Wissenschaftler wie Karl Rahner, Paul Ricoeur, Karl R. Popper, Michael Walzer und Michael Theunissen, Repräsentanten des religiösen Lebens wie Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, der polnische Erzbischof Henryk Muszynski oder Bischof Eduard Lohse, sowie der Kultur und Politik wie Léopold Sédor Senghor, der frühere senegalesische Staatspräsident, und Richard von Weizsäcker.

Die Auszeichnung wurde 1972 von dem am 9. Juli 1998 verstorbenen Generalkonsul Franz D. Lucas, ehemals Ehrensenator der Universität Tübingen, zum 100. Geburtstag seines in Theresienstadt umgekommenen Vaters, des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Dr. Leopold Lucas gestiftet. Die Evangelisch-Theologische Fakultät vergibt den von der Dr. Leopold Lucas-Stiftung finanzierten Preis alljährlich im Namen der Universität Tübingen.