Der Name Dietrich Geyer hat in der deutschen sowie internationalen Geschichtswissenschaft einen sehr guten Klang. Sein wissenschaftliches Werk ist trotz des beschleunigten Wandels der letzten Jahrzehnte anregend und relevant geblieben. Mit seinen Pionierarbeiten zum russischen Imperialismus, zur Geschichte politischer Ideen sowie dem sozialen und ökonomischen Wandel des Zarenreichs und der Sowjetunion prägte Dietrich Geyer die Forschungslandschaft maßgeblich und trug damit auch viel zur Bedeutung sowie zum öffentlichen Selbstverständnis des Faches bei. Von 1965 bis 1994 leitete er das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen und machte es in dieser Zeit zu einem wichtigen Standort internationaler Forschungskooperation.
Dietrich Geyer stand für methodische Offenheit und akademische Experimentierfreude. In einer Disziplin, deren Diskussionsunlust er beklagte, war es für interessierte Studierende und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in und außerhalb Tübingens wichtig, dass er intellektuelle Impulse gab, dass er ihre Studien in aller Freundlichkeit mit kritischem Auge begleitete und so entscheidend förderte. Damit wurde er der Mentor, den angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen, um eigene Wege gehen zu können.
Obwohl Dietrich Geyer persönlich in der Sowjetzone und der frühen DDR keine guten Erfahrungen mit dem Kommunismus gemacht hatte, war sein Interesse für den „Osten“ mehr von Neugier als von Abwehr und den Verkrampfungen des Kalten Krieges geprägt. Durch seine Kontakte in die damalige Tschechoslowakei, in die Sowjetunion und nach Polen stellte er fachliche Verbindungen her, von denen seine vielen Schülerinnen und Schülern maßgeblich profitierten. Für Kolleginnen und Kollegen aus Osteuropa entwickelte sich Tübingen zu einem wichtigen Ort des intellektuellen Austauschs, um die unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in Ost und West einander näherzubringen. Damit übernahm Dietrich Geyer eine wichtige Funktion als Vermittler und Brückenbauer. 1968 (Prager Frühling), 1980 (Solidarność in Polen) und 1985 (Beginn der Perestroika in der Sowjetunion) waren Wendepunkte, die ihren Niederschlag in wissenschaftlichen Publikationen und politischen Diskussionen fanden.
Neben seinem anhaltenden Interesse für die Geschichte und Politik Osteuropas hat sich Dietrich Geyer im Alter neuen Themen wie seiner eigenen Biografie sowie den Anfängen der Psychiatrie in Württemberg zugewandt und dazu weitere aufschlussreiche Bücher publiziert. Im Jahr 2020 erschien noch sein Vorlesungszyklus zum russischen Imperium vom 17. Jahrhundert bis zum Untergang der Sowjetunion. Nach einem langen und erfüllten Leben ist Dietrich Geyer am 19. Oktober in Tübingen verstorben. Die Osteuropa-Forschung und die Universität Tübingen verlieren einen großen Gelehrten, dessen akademisches und öffentliches Wirken unvergessen bleiben wird.