Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2025: Leute

Mit Stil und Anspruch – die Literatur im Zentrum

Zum Tode von Professor Dr. Bernhard Greiner ein Nachruf von Georg Braungart

Mit seinem letzten Buch hat er noch einmal alle überrascht und beeindruckt: In seinem Riesenwerk von fast 900 Seiten über die Literatur- und Wissensgeschichte der Wolken, zum Jahreswechsel 2024/25 erschienen, öffnet Bernhard Greiner den Horizont seiner Forschungen hin zu aktuellen Tendenzen: Wissensgeschichte, Kulturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Geschichte von Stimmungen. Mit dem Haupttitel dieser monumentalen Studie, die durchaus als das Opus Magnum dieses universal gebildeten, äußerst produktiven Gelehrten angesehen werden kann – Gestaltenreiches, bald Gestaltenloses – ist ein Grundmotiv auch seiner anderen Forschungen angesprochen: die Dialektik von Stofflichem einerseits und poetologisch geregelter Formgebung andererseits.

Bernhard Greiner, 1943 in Landsberg am Lech geboren, zog es zum Studium nach Kiel, vor allem aber dann ganz in den Südwesten, nach Freiburg im Breisgau, wo er 1968 das Staatsexamen ablegte und kurz darauf, 1971, promoviert wurde. 1979 erfolgte, ebenfalls in Freiburg, die Habilitation. 1981 in Freiburg zum Professor ernannt, folgte 1989 der Ruf an die Universität Tübingen, der er bis zu seiner Emeritierung 2009 treu blieb. – Nicht ganz, denn eine für sein Profil und sein Engagement sehr wichtige Station war, in den Jahren 2000 bis 2002 der renommierte Walter-Benjamin-Lehrstuhl an der Hebrew University of Jerusalem. Hier kam eines der Themen besonders zur Geltung, das ihm zeitlebens sehr am Herzen lag: die deutsch-jüdische Literatur in ihren wechselseitigen Beziehungen und Konstellationen. Dieses Interesse fand seinen Ausdruck unter anderem in dem 2004 erschienenen Band Beschneidung des Herzens und in mehreren von ihm herausgegebenen Sammelbänden.

Mit den Freiburger Qualifikationsschriften, der Dissertation und der Habilitationsschrift beginnt die lange Reihe seiner Bücher, Aufsätze und Sammelbände, die durch eine umfassende historische Tiefe wie auch eine systematische, interdisziplinäre Breite gekennzeichnet sind. Sehr oft reichen die Darstellungen bis in die Antike zurück, und sehr oft findet man in ihnen einen komparatistischen Zugriff. Eine ganz besondere Verbreitung fanden die Monographien zur Komödie (1992, 2. Auflage 2006), zur Tragödie (2012 im Umfang von über 800 Seiten) und zu Heinrich von Kleist (2000). Bernhard Greiner legte hier nicht einfach fade Überblickswerke oder Einführungen vor. Ohne den Anfänger in diesen Themen vor den Kopf zu stoßen, hatte er doch immer den Anspruch, zu den von ihm interpretierten Texten – wie gesagt: meist von der Antike bis zur Gegenwart – niveauvolle, eigenständige und über das Bisherige hinausführende Einsichten und Deutungsansätze zu liefern. Seine Studierenden profitierten sehr davon, dass all diese Bücher in enger Verzahnung mit der akademischen Lehre, mit Seminaren und Vorlesungen entstanden. So war die Bodenhaftung immer gesichert. Aber auf der anderen Seite wusste jeder, der bei ihm eine Examensprüfung ablegte: Kleist ohne Kant – das geht auf keinen Fall! Gleichwohl lag ihm, der ja mit dem zweiten Staatsexamen auch eine volle Ausbildung zum Gymnasiallehrer hatte, immer auch daran, dass seine Studierenden die zuweilen sehr komplexen Gedankengänge nach- und mitvollziehen konnten. 

Nietzsche gehörte zu den ganz früh erschlossenen Themen. Auch auf ihn kam er immer wieder zurück, zuletzt mit der sorgfältig kommentierten Edition der Tragödienschrift (2014). Tragödie, Komödie, das Theater insgesamt war sicher einer der wichtigsten systematischen Schwerpunkte von Bernhard Greiner, der auch über eigene dramaturgische Praxis verfügte. Ganz anders gelagert ist ein weiteres Lebensthema, die Literatur der DDR. Zu einer Zeit, als dies noch vor allem von marxistisch orientierten Forschern behandelt wurde, erschloss Greiner dieses Feld mit einer Monographie und mit Sammelbänden. 

Bernhard Greiner, der immer mit Anspruch und Stil auftrat und seine Argumente vortrug, gleichsam ein Künstler seines Faches war, hatte auch eine große Stärke im Institutionellen, im Betrieb der Universität. Er begründete das seine Fakultät in Tübingen prägende Graduiertenkolleg Pragmatisierung – Entpragmatisierung: Literatur im Spannungsfeld autonomer und heteronomer Bestimmungen, das er auch einige Jahre leitete. Und er wirkte an weiteren Forschungsverbünden der Universität wie auch an vielen Ringvorlesungen und Vortragsreihen mit. Die von ihm mitveranstalteten Tagungen führten immer wieder hochrangige, auch internationale Forscherpersönlichkeiten zusammen. Die daraus resultierenden Bände setzten wichtige Akzente. Und dass ihm zwei Festschriften gewidmet wurden, spricht deutlich dafür, wie sehr er in der wissenschaftlichen societas verankert war.

Bernhard Greiner war ein immer elegant erscheinender, weltläufiger Wissenschaftler, der so gar nicht dem Bild eine Stubengelehrten entsprach. Eine lange Reihe von Gastprofessuren, von Kalifornien bis Australien, von Jerusalem bis China zeugen von seinem weltweiten Renommee. Anfang des Jahres führten eine Italienreise zu neuen Impulsen und Interessen. Seine Begeisterung für Caravaggio erwachte von Neuem. Es war zu erwarten, dass sich daraus neue, inspirierende Forschung entwickeln würde.
Dazu ist es nun nicht mehr gekommen. Am 12. September 2025 ist Bernhard Greiner nach einer kurzen, schweren Krankheit verstorben. Sein Grab ist auf dem Friedhof in München-Haidhausen, ganz in der Nähe seines geliebten Preysingplatzes, der ihm zur zweiten Heimat geworden war, beigesetzt. Das Deutsche Seminar der Universität Tübingen erinnert sich dankbar an einen lieben und liebenswürdigen Kollegen, einen engagierten akademischen Lehrer und an einen hoch angesehenen Forscher.