Die Epistolographie von Schriftstellerinnen und Schriftstellern tritt vor dem eigentlichen literarischen Werk naturgemäß eher in den Hintergrund. Dabei können einige Briefsammlungen sowohl quantitativ als auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Tragweite als „Werk neben dem Werk“ [1] geltend gemacht werden. Der Brief kann gleichermaßen als Medium des Informationsaustauschs als auch mit literarisch-ästhetischem Anspruch in Erscheinung treten – und nicht selten verbinden sich beide Formen zu einer Doppelfunktion. Die hohe inhaltliche Varianz, gepaart mit dem Auftreten in bisweilen großen, formal konstanten Datenmengen, prädestiniert das Briefwerk als Untersuchungsgegenstand für quantitativ-computergestützte Zugriffe, die den methodischen Rahmen dieses Projekts bilden sollen. Im Arbeitsvorhaben, das sich zunächst auf das Briefkorpus von Charles Dickens mit etwa 14.000 Briefen stützen wird, soll erstmals mittels quantitativer Methodik möglichen Bezügen oder – sofern sich diese weiter verdichten – Bezugssystemen zwischen epistolaren und literarischen Werken nachgespürt werden, die sich z.B. in gemeinsamen Motiven, Figuren oder Leitbegriffen offenbaren können und auf eine ästhetische Kategorienbildung hinweisen. In einem zweiten Schritt soll die Möglichkeit geprüft werden, textuelle Manifestationen von Bezügen automatisiert zu erfassen und mittels maschineller Lernverfahren auf weitere epistolare und literarische Korpora anzuwenden, um generische (d.h. korpusübergreifende) Bezugspunkte innerhalb eines ästhetischen Verständigungsrahmens offenlegen zu können.
[1] So etwa verorten Irmgard Wirtz und Alexander Honold das umfangreiche Briefwerk Rilkes, vgl. Honold, A. & Wirtz, I. M. (2019). Rilkes Korrespondenzen: Das Briefwerk als Medium kommunikativer Selbstentwürfe und literarischer Interaktion. In A. Honold & I. M. Wirtz (Hrsg.), Beide Seiten - Autoren und Wissenschaftler im Gespräch: Bd. 6. Rilkes Korrespondenzen (S. 7–32). Wallstein; Chronos, S. 7.