Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2023: Forschung

„Wenn in den Medien von der ‚ukrainischen Krise‘ die Rede ist, ist das höchst manipulativ“

Ein Gespräch mit der ukrainischen Soziologin Dr. Taiisia Ratushna

Mithilfe eines Stipendiums des Universitätsbunds Tübingen e. V. und der tatkräftigen Unterstützung zahlreicher Mitarbeitenden der Universität Tübingen konnte Dr. Taiisia Ratushna, zusammen mit ihrer Tochter, in Tübingen Fuß fassen. 
  
Liebe Frau Ratushna, seit unserem letzten Gespräch sind mehrere Monate vergangen. Wie ist es Ihnen und Ihrer Tochter zwischenzeitlich ergangen? 

Vielen Dank, uns geht es gut. Zwar vermissen wir die Ukraine und das Leben, das wir vor dem Krieg geführt haben, doch versuchen wir, uns an unsere neuen Lebensumstände zu gewöhnen. Meiner Tochter gelingt das viel schneller als mir; sie spricht schon sehr gut Deutsch und wird im September auf eines der hiesigen Gymnasien gehen. 

Konnten Sie Ihre Forschung an der Universität Tübingen weiterführen?

Ja, das konnte ich. Die Arbeitsbedingungen an der Universität Tübingen sind sehr gut: Ich habe einen Arbeitsplatz, Zugang zur Bibliothek, moderne Software und erhalte die Möglichkeit, mit exzellenten Forschenden zusammenzuarbeiten. Professorin Dr. Pia Schober, mein „Host“, ist die perfekte Mentorin. Es ist unglaublich bereichernd, mit ihr und ihrem Team zusammenzuarbeiten. Natürlich gibt es jedoch auch die Momente, in denen es mir schwerfällt, mich auf meine Forschung zu konzentrieren. Im Herbst zum Beispiel, als Russland eine militärische Großoffensive gegen die Ukraine startete. Saporischschja, die Stadt, in der ich 22 Jahre lang lebte, in der meine Familie noch immer lebt, wurde von dieser schwer getroffen. 

Halten Sie Kontakt zu Ihrer Heimatuniversität und Ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine? 

Dank moderner Technologie ist es mir möglich, mit meiner Heimatuniversität, der Nationalen Universität Saporischschja, und meinen Kolleginnen in und Kollegen Kontakt zu bleiben. Wir treffen uns einmal im Monat online, um Arbeitsthemen zu besprechen und um uns auszutauschen. 

Stehen Sie weiterhin in Kontakt mit NGOs?

Letzten Dezember arbeite ich mit der NGO (Nichtregierungsorganisation) „Ukrainian Centre for Social Planning“ zusammen; wir führten Meinungsumfragen innerhalb der Bevölkerung in den besetzten Gebieten der Region Saporischschja durch. Es fiel mir jedoch schwer, die Informationen, die wir erhielten, rein professionell zu analysieren: Die befragten Menschen legten dar, was es bedeutet, in besetzten Gebieten zu leben, dass ihnen lebensnotwendige Medikamente fehlen, wie es ist, Nachbarinnen und Nachbarn sowie Verwandte zu verlieren und vor allem, wie die russische Artillerie Dörfer und Städte zerstört. Das ging mir sehr nahe. 

Sie forschen zu Fake News“ und der Rolle der Medien. Wie beurteilen Sie die Berichtserstattung über den russischen Angriffskrieg in den deutschen Medien? 

Momentan werden in den deutschen Medien weniger Fake News, die ihren Ursprung in russischer Propaganda haben, verbreitet. Trotzdem werden auch hier Bilder verzerrt dargestellt. Ich gebe Ihnen ein einfaches Beispiel: Wenn in den Medien von der „ukrainischen Krise“ die Rede ist, ist das höchst manipulativ. Diese Wortwahl suggeriert, dass die Ukraine ein hausgemachtes Problem hat und blendet die Rolle des Aggressors Russland vollkommen aus. Manchmal werden in den Medien auch sogenannte Expertinnen und Experten, die sich eindeutig zu Russland bekennen, interviewt. Journalistinnen und Journalisten rechtfertigen diesen Schritt oftmals damit, dass nur so ein ausgeglichenes Bild der Lage wiedergegeben werden kann. Fakt ist jedoch, dass auf diesem Wege Propaganda und Desinformationen medial Einzug halten. 

2022 bat ich Sie, die Situation in der Ukraine zu beschreiben. Wie würden Sie die Situation heute, einem Jahr nach dem russischen Angriff, beschreiben? 

Die allgemeine Lage ist noch immer sehr, sehr schwierig. Fast wöchentlich greift Russland friedliche ukrainische Städte an, vernichtet Wohnhäuser, zerstört die Energieversorgung, tötet Zivilistinnen und Zivilisten und überlässt Menschen in eisigen Temperaturen – ohne Strom, ohne Wasser und ohne Heizung – ihrem Schicksal. Russland hat zudem dafür gesorgt, dass zehn Millionen Menschen aus der Ukraine ihre Heimat verlassen mussten, mehr als vier Millionen sind ins Ausland geflohen. Jeden Tag sterben Menschen. Diejenigen, die in den besetzten Gebieten, zurückbleiben, leider unter der Gesetzlosigkeit, mit der sie täglich konfrontiert werden und der Tatsache, dass russische Täter straffrei davonkommen. 

Es beeindruckt mich jedoch sehr, zu sehen, wie geeint das ukrainische Volk in seinem Bestreben ist, den russischen Feind zu stoppen.

Ich bin zudem sehr dankbar darüber, dass unsere Partner aus dem Ausland uns fortlaufend unterstützen. 

Liebe Frau Ratushna, möchten Sie den Fragen noch etwas hinzufügen? 

Ich möchte all denjenigen, die mich an der Universität Tübingen und in meinem Tübinger Alltag, unterstützten bzw. noch immer unterstützen meinen tiefsten Dank aussprechen.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen Rebecca Hahn

 

Wie erging es Dr. Taisiia Ratushna 2022 nach ihrer Ankunft in Tübingen? Lesen Sie das Interview „Über Ungewissheiten und Solidarität“, das Dr. Taisiia Ratushna im Juli 2022 dem Universitätsbund gab.