Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2024: Alumni Tübingen

„Mich fasziniert die Neugier und der Unternehmergeist der Menschen in China“

Alumna Corinne Abele arbeitet seit über 20 Jahren als GTAI-Korrespondentin für die deutsche Wirtschaft in China

Seit 2014 leitet die studierte Osteuropa-Historikerin und Diplom-Volkswirtin Corinne Abele den Außenwirtschaftsbereich von Germany Trade & Invest (GTAI) in Shanghai und berichtet über das Wirtschaftsgeschehen in China. Davor war sie in gleicher Funktion bereits sechs Jahre in Taipeh und acht Jahre in Peking für die GTAI tätig. 

Frau Abele, erzählen Sie von Ihrer Arbeit in Shanghai…

Seit zehn Jahren bin ich für die GTAI in Shanghai unterwegs. Ich sammle Informationen über Wirtschaftstrends, Industriepolitiken, innovative Veränderungen, aber auch Herausforderungen und Risiken für deutsche Unternehmen in China. Dazu recherchiere ich viel in Internet, Sozialen Medien, aber auch auf offiziellen Websites. Wichtig ist gerade in China, dass auf diese Weise gesammelte Informationen immer nochmals hinterfragt und überprüft werden – am besten durch Gespräche mit Unternehmensvertretern, aber auch Spezialisten. Ich besuche daher viele Messen und spreche mit Ausstellern und Besuchern. Und ich bin natürlich immer im Austausch mit deutschen Unternehmensvertretern vor Ort. GTAI, die Wirtschaftsabteilung im Generalkonsulat und die Auslandshandelskammer arbeiten dabei eng zusammen.

Basierend auf diesen Informationen analysiere ich dann das Wirtschaftsgeschehen, schreibe Artikel, halte Vorträge und Onlinepräsentationen. Daneben briefe ich natürlich auch deutsche Wirtschafts- und Unternehmensdelegation in Shanghai, wenn dies erwünscht ist. 

Eingesehen werden können all diese Informationen und Berichte auf unserer Website www.gtai.de. Der Trade-Bereich von GTAI richtet sich vor allem an exportorientierte deutsche Mittelständler, um sie bei ihren Aktivitäten in Auslandsmärkten zu unterstützen. 

Meine Artikel und Analysen schreibe ich daher immer in deutscher Sprache, während ich Vorträge über unterschiedliche Aspekte von Chinas Wirtschaftsentwicklung je nach Publikum in deutscher, englischer oder auch chinesischer Sprache halte. Die GTAI ist die offizielle Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, zugeordnet dem  Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und Teil der deutschen Außenwirtschaftsförderung. 

Wie verständigen Sie sich bei Ihrer Arbeit, auf Chinesisch oder Englisch? 

Ich schreibe deutsch, spreche im Büro deutsch, englisch und chinesisch und bin im Alltag und bei meinen Recherchen in der chinesischen Hochsprache Putonghua unterwegs. Den Shanghaier Dialekt beherrsche ich leider nicht. Ich lebe jetzt zwar seit über 20 Jahren in China, lerne aber jeden Tag hinzu. Die Sprache ist sehr lebendig – gerade im Internet. 

Shanghai ist Chinas wohl internationalste Stadt, aber dennoch benötigt man zum Taxifahren chinesisch. Auch in häufig noch familiengeführten Privatunternehmen, die durchaus sehr erfolgreich sein können, sprechen viele Chefs nur chinesisch – oder ihren lokalen Dialekt. In der Start-up-Szene kommt man hingegen gerade in Shanghai auch mit englisch relativ weit. Dies gilt vor allem für die Biotech-Branche. Auch in den größeren international orientierten chinesischen Unternehmen verfügt das Management häufig über Englischkenntnisse. 

Immer wieder trifft man auch auf vor allem jüngere Menschen mit teilweise verblüffend gutem Deutschkenntnissen. Einige haben diese an den renommierten Sprach-Universitäten in China gelernt, andere sind zum Studium in Deutschland gewesen. 

Mitte April war eine hochrangige deutsche Delegation mit Bundeskanzler Olaf Scholz an der Spitze zu Gast in China, auch in Shanghai. Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Im Vorfeld hat GTAI eine Informationsmappe für alle Delegationsmitglieder erarbeitet. In Shanghai war ich dann beim Austausch von Olaf Scholz mit Studierenden der renommierten Tongji-Universität vor Ort dabei. Diese Universität wurde 1907 von Deutschen gegründet und unterhält heute noch enge Verbindungen zu Deutschland, etwa über das Chinesisch-Deutsche Hochschulkolleg (CDHK).

Der Austausch fand komplett in deutscher Sprache statt, wobei die Fragen nicht vorher protokollarisch abgesprochen schienen. Bundeskanzler Scholz hat locker, aber dennoch konkret die Fragen der Studierenden beantwortet: Wie können die beiden Länder künftig im Bereich Elektromobilität zusammenarbeiten? Wie wird es gesehen, wenn chinesische Elektroautos auf den deutschen Markt kommen? Könnte es Visa-Erleichterungen für Studierende etwa in den MINT-Fächern geben? Und was bedeutet die Cannabis-Legalisierung für chinesische Gaststudierende in Deutschland? 

Sie leben seit über 20 Jahren in China, seit 2014 in Shanghai… Was fasziniert Sie an diesem Land, an der Stadt Shanghai? 

Für mich persönlich ist China mit seinen vielen Facetten trotz der Entwicklungen in den letzten Jahren nie langweilig. Allein die einzelnen Regionen sind sehr unterschiedlich und funktionieren jeweils anders. Und erst die Dimensionen: So leben nur in Shanghai etwa so viele Menschen wie in ganz Australien. Und die Wirtschaftskraft der Provinz Jiangsu ist beispielsweise größer als die Spaniens. 

Mich selbst fasziniert vor allem die Neugier vieler Menschen hier und der Unternehmergeist wie hier im Yangtse-Delta. Am ausgeprägtesten ist der Privatsektor in der Provinz Zhejiang. In China bekomme ich täglich – wenn auch kleine – Einblicke in eine andere Welt, in der manches ganz anders gehandhabt wird als bei uns in Europa. 

Dabei steht Shanghai wie keine andere Stadt in China für das Bemühen um Öffnung und um Internationalisierung, hier trafen auch in der Geschichte Ost und West immer wieder aufeinander. Daneben ist Shanghai eine sehr sichere Stadt, was auch der Überwachung der öffentlichen Räume geschuldet ist. Ein Auto benötigt man nicht, denn Shanghai verfügt über das größte U-Bahn-Netz weltweit. Allerdings fährt ab 23 Uhr keine U-Bahn mehr; gegen Mitternacht sollen alle Zuhause sein.

Die Bilder aus Shanghai während Corona-Pandemie gingen um die Welt… 

Während der Corona-Pandemie hat Shanghai sehr stark unter dem strengen Lockdown im Frühjahr 2022 gelitten. Wir saßen alle mindestens zwei Monate in unseren Wohnungen, die wir nicht verlassen konnten – immer mit der Angst, positiv getestet und in ein Covid-Pandemielager geschickt zu werden. Viele Ausländer haben noch während oder direkt nach Ende der Covid-Maßnahmen das Land verlassen. Die, die den Lockdown hier vor Ort durchlebt haben, sind enger zusammengerückt, man hat sich ausgetauscht und gegenseitig unterstützt. Vor Covid kannte ich in meinen 31-stöckigen Wohnhaus meine Nachbarn kaum, erst die gemeinsam durchlebte Covid-Zeit hat das geändert. 

Die harten und teilweise unmenschlichen Lockdown-Maßnahmen haben die Menschen extrem belastet, so dass es zu Protestaktionen kam. Inwieweit diese zum plötzlichen Ende der Covid-Maßnahmen im November 2022 beigetragen haben, lässt sich aber nur schwer sagen.

Inzwischen richtet sich der Blick in Shanghai auf die Zukunft, Covid-Aufarbeitung passiert hier nicht. Vielmehr geht es darum, wie die Wirtschaft wieder angekurbelt werden kann. Zwar ist China laut offiziellen Zahlen im ersten Quartal 2024 um 5,2 Prozent gewachsen und damit besser als erwartet. Doch in Shanghai bleiben immer noch Geschäfte oder Restaurants geschlossen. Der Konsum steigt nur sehr langsam, viele fürchten noch immer um ihren Arbeitsplatz. Vor allem im Süden Chinas haben viele exportorientierte, gerade private Unternehmen inzwischen aufgegeben. 

Welche Branchen boomen aktuell besonders in China?

Eine Boombranche ist aktuell der Tourismus. Das Bedürfnis, nach der Pandemie wieder zu reisen, ist bei den Menschen in China riesig. Auch während der Maifeiertage gab es überall ein Menschenmeer - 人海 ren hai.

Gut läuft es weiterhin im Bereich Elektromobilität, wobei sich die Zuwachszahlen abflachen. Aber auch die Chemiebranche wächst stabil und natürlich die Bereiche erneuerbare Energien, Solarzellen und Batterien. Gleichzeitig wird kräftig in Biotech, Gesundheitswirtschaft sowie Internet-Wirtschaft, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz investiert. Einige Pilotprojekte erlauben bereits komplett fahrerloses autonomes Fahren innerhalb ausgewiesener Bezirke. Diese neuen strategischen Industriebereiche werden stark gefördert und sollen einen immer größeren Anteil zur Wirtschaft beitragen.

Generell ist festzustellen, dass es China nicht mehr nur um immer größere Produktionsmengen geht, sondern verstärkt um neue innovative Produkte und um Effizienz. 

Erzählen Sie von Ihrem Studium in Tübingen... 

Nach einem Zeitungsvolontariat und anschließender einjähriger Redaktionstätigkeit bei der Heilbronner Stimme habe ich zum Wintersemester 1989/90 mit dem VWL Regional Studiengang Osteuropa in Tübingen begonnen und zunächst das Propädeutikum Russisch besucht. Nach dem Vordiplom habe ich mich dann zu einem Doppelstudium des Magister-Studiengangs Osteuropäische Geschichte und des Diplomstudiengangs Volkswirtschaftslehre entschlossen.

Wie sind Sie dann zu China und Chinesisch gekommen?

Während meines Studiums habe ich 1990 eine Freundin besucht, die für den britischen Entwicklungsdienst in Taiyuan, der Hauptstadt der Kohleprovinz Shanxi, arbeitete. Trotz damals fehlender Chinesisch-Kenntnisse haben mich die ersten Bauernmärkte und Anzeichen der beginnenden Öffnung Chinas sehr beeindruckt. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich mich daher sofort um ein Stipendium für einen Chinaaufenthalt bemüht. Tatsächlich war ich dann mit einem Stipendium der "Alfried Krupp von Bohlen und Halbach"-Stiftung 1992/93 für ein Jahr an der Nanjing Universität, um Chinesisch zu lernen. Dafür habe ich mich in Tübingen ein Jahr vom Studium beurlauben lassen. Meine VWL-Diplomarbeit in Tübingen habe ich anschließend über die Transformation der chinesischen Wirtschaft in Richtung Privatwirtschaft gemacht und meine Magisterarbeit in osteuropäischer Geschichte über die Perzeption Chinas im russischen Fernen Osten. 

Was ist Ihnen aus Ihrem Studium in Tübingen in besonderer Erinnerung geblieben? 

Am meisten beeindruckt hat mich mit seiner ganzen Persönlichkeit und seiner Art zu lehren Professor Dietrich Geyer in der Osteuropäischen Geschichte, der leider kürzlich verstorben ist. Er hat immer den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus betont und seine Expertise als Osteuropahistoriker in aktuelle Diskurse eingebracht. Wir müssen die Dinge immer aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, um sie in ihrer Komplexität zu sehen und zu verstehen. Dieser Ansatz ist auch für meine heutige Arbeit bei GTAI sehr wertvoll.

Geschätzt habe ich an meinem Studium, die Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen und als Grenzgängerin zwischen den Wirtschaftswissenschaften, den Geisteswissenschaften und den Regionen Russland und China unterwegs sein zu dürfen. 

Welches war Ihr Lieblingsplatz in Tübingen? 

Sehr gerne erinnere ich mich an das weltbeste Müsli im Café Hirsch in der Hirschgasse. Und natürlich an die super leckeren Bratkartoffeln in der Weinstube Unckel in der Wilhelmstraße, für 2,50 DM damals. Die haben mich oft gerettet. Ein Traum.

Wie haben Sie von Ihrem Studium für Ihren jetzigen Beruf profitiert?

Natürlich das Verständnis für Wirtschaft und wirtschaftliche Zusammenhänge. Aber auch die Erkenntnis, dass Wirtschaft und Gesellschaft immer zusammenhängen, dass wirtschaftliche Fragestellungen auch vor dem jeweiligen kulturellen Hintergrund zu sehen sind. Insofern ist die Arbeit als GTAI-Wirtschaftskorrespondentin in China für mich ein Traumjob: Ich kann meine Interessen verwirklichen, meine Neugier stillen und einbringen, was ich während meines Studiums und in meiner journalistischen Ausbildung gelernt habe. 

Was würden Sie jungen Menschen, die jetzt ein Studium beginnen, mit auf den Weg geben?

Im Studium sollte man seine Neugier pflegen und die eigenen Interessen erkennen und verfolgen. Und natürlich immer wieder fragen und hinterfragen, völlig unabhängig vom jeweiligen Studienfach und künftigen Jobs. Die Welt verändert sich rasant, aber wer in der Lage ist, die richtigen Fragen zu stellen, wird sich immer weiterentwickeln. 

Das Interview führte Maximilian von Platen

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