Uni-Tübingen

Der Papst, die Mathematik und die Unendlichkeit

Leo XIV. hat Mathematik studiert und kann deshalb mit der Unendlichkeit rechnen.

Menschen sind endliche Wesen. Unser Gehirn verfügt über eine endliche Anzahl von Neuronen, und wir interagieren während unseres endlichen Lebens mit endlich vielen Menschen. Dennoch hat der Mensch die bemerkenswerte Fähigkeit, sich das Unendliche vorzustellen. Diese Fähigkeit liegt Euklids Beweis zugrunde, dass es unendlich viele Primzahlen gibt; sowie dem Glauben von Milliarden Menschen, ihre Götter seien unendliche Wesen – frei von sterblichen Zwängen. 

Diese Ideen sind Papst Leo XIV. sicherlich bekannt, da er vor seinem Leben für die Kirche Mathematik studiert hatte. Leos Werdegang ist wahrscheinlich kein Zufall. Denn es gibt eine Verbindung zwischen Mathematik und Theologie. Die Unendlichkeit ist zweifellos für beide von zentraler Bedeutung. Praktisch alle mathematischen Objekte – wie Zahlen oder geometrische Formen – bilden unendliche Mengen. Und Theologen beschreiben Gott häufig als ein einzigartiges, absolut unendliches Wesen.

Trotz der Verwendung desselben Wortes besteht traditionell eine große Kluft in der Vorstellung, die Mathematiker und Theologen von der Unendlichkeit haben. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert glaubten Mathematiker, es gebe unendlich viele Zahlen, lehnten aber – im Gegensatz zu Theologen – die Idee einer absoluten Unendlichkeit entschieden1 ab. Ihr Grundgedanke: Sicherlich gibt es unendlich viele Zahlen, da wir immer weiter zählen können. Aber jede Zahl selbst ist endlich; es gibt keine unendlichen Zahlen. Was also abgelehnt wird, ist die Legitimität der Gesamtheit aller Zahlen als ein in sich geschlossenes Objekt. Denn die Existenz solcher Gesamtheiten führt zu logischen Paradoxien.

Ein Paradoxon des Unendlichen

Das einfachste Beispiel hierfür ist eine Version von Galileis Paradoxon, das zu scheinbar widersprüchlichen Aussagen über die natürlichen Zahlen 1, 2, 3 ... führt. Man beachte zunächst, dass einige Zahlen gerade sind, andere hingegen nicht. Folglich müssen die Zahlen – gerade und ungerade – zahlreicher sein als nur die geraden Zahlen 2, 4, 6 … Und doch korrespondiert zu jeder Zahl genau eine gerade Zahl. Um das zu sehen, multiplizieren wir einfach eine beliebige Zahl mit 2. Aber: Dann kann es nicht mehr Zahlen geben als gerade Zahlen. Wir kommen also zum widersprüchlichen Schluss, dass es mehr Zahlen gibt als gerade Zahlen; gleichzeitig gibt es hingegen nicht mehr Zahlen als gerade Zahlen. 

Aufgrund solcher Paradoxien lehnten Mathematiker jahrtausendelang aktuale Unendlichkeiten ab. Vielmehr beschäftigte sich die Mathematik mit einem viel zahmeren Konzept der Unendlichkeit als dem Absoluten, das in der Theologie Anwendung fand. Diese Situation änderte sich dramatisch mit der Einführung der sogenannten transfiniten Mengenlehre durch den Mathematiker Georg Cantor in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Cantors radikale Idee bestand darin, absolute Unendlichkeiten auf mathematisch rigorose Weise in die Mathematik einzuführen. Diese Innovation revolutionierte sein Fachgebiet, indem sie eine leistungsfähige und vereinheitlichende Theorie des Unendlichen lieferte. Heute bildet die Mengenlehre die Grundlage der Mathematik, auf der alle anderen Teilgebiete aufbauen.

Nach Cantors Theorie haben zwei Mengen – A und B – die gleiche Größe, wenn ihre Elemente in einer Eins-zu-eins-Korrespondenz zueinander stehen. Das bedeutet: Jedes Element von A kann zu genau einem Element von B in Beziehung gesetzt werden und umgekehrt. Man denke etwa an Mengen von Ehemännern und Ehefrauen in einer konservativen, heterosexuellen, monogamen Gesellschaft. Diese Mengen haben die gleiche Größe, auch wenn wir möglicherweise nicht jeden Ehemann und jede Ehefrau zählen können. Dies liegt daran, dass die Beziehung der Ehe eine Eins-zu-eins-Korrespondenz ist. Für jeden Ehemann gibt es genau eine Ehefrau, und umgekehrt existiert für jede Ehefrau genau ein Ehemann.

Nach dem gleichen Prinzip haben wir oben gesehen, dass in Cantors Theorie die Menge der Zahlen – gerade und ungerade – dieselbe Größe hat wie die Menge der geraden Zahlen. Das Gleiche gilt für die Menge der ganzen Zahlen, die auch die negativen Zahlen enthält, und die Menge der rationalen Zahlen, die als Brüche geschrieben werden können. Das auffälligste Merkmal von Cantors Theorie ist, dass nicht alle unendlichen Mengen dieselbe Größe haben.

Insbesondere zeigte Cantor, dass die Menge der reellen Zahlen, die als unendliche Dezimalzahlen geschrieben werden können, strikt größer ist als die Menge der ganzen Zahlen. Die Menge der reellen Zahlen wiederum ist kleiner als noch größere Unendlichkeiten – und so weiter. Um die Größe unendlicher Mengen zu messen, führte Cantor die sogenannten transfiniten Kardinalzahlen ein. Die immer größer werdenden transfiniten Zahlen werden mit Aleph bezeichnet, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, dessen mystische Natur von Philosophen, Theologen und Dichtern gleichermaßen erforscht wurde.


Jede Zahl selbst ist endlich; es gibt keine unendlichen Zahlen.


Mengenlehre und Papst Leo XIII.

Für Cantor, einen tief gläubigen lutherischen Christen, war die Motivation und Rechtfertigung seiner Theorie der absoluten Unendlichkeit unmittelbar religiös inspiriert. Tatsächlich war er davon überzeugt, die transfiniten Zahlen seien ihm von Gott mitgeteilt worden 2 . Darüber hinaus zeigte sich Cantor zutiefst besorgt über die Folgen seiner Theorie für die katholische Theologie. Papst Leo XIII., Cantors Zeitgenosse, ermutigte Theologen, sich mit der modernen Wissenschaft auseinanderzusetzen, um zu zeigen, dass die Schlussfolgerungen der Wissenschaft mit der religiösen Lehre vereinbar seien. In seiner umfangreichen Korrespondenz mit katholischen Theologen bemühte sich Cantor unermüdlich, zu argumentieren, dass seine Theorie den Status von Gott als dem einzigen absoluten unendlichen Wesen nicht infrage stelle 3 .

Im Gegenteil: Er verstand seine transfiniten Zahlen als eine Vergrößerung des Wesens Gottes, als „Weg zum Thron Gottes“. Cantor adressierte sogar einen Brief und mehrere Notizen zu diesem Thema an Leo XIII. persönlich. Für Cantor liegen absolute Unendlichkeiten an der Schnittstelle zwischen Mathematik und Theologie. Es ist bemerkenswert, dass eine der grundlegendsten Revolutionen in der Geschichte der Mathematik, die Einführung aktualer Unendlichkeiten, so tief mit religiösen Fragen verflochten war. Papst Leo XIV. hat ausdrücklich erklärt, dass Leo XIII. ihn bei der Wahl seines Papstnamens inspirierte. Vielleicht gehörte zur unendlichen Anzahl möglicher Gründe für diese Entscheidung auch genau diese mathematische Verbindung.


Cantor verstand seine transfiniten Zahlen als eine Vergrößerung des Wesens Gottes, als „Weg zum Thron Gottes“.


Balthasar Grabmayr ist Junior-Professor für Logik an der Universität Tübingen. Er fragt sich zum Beispiel, was eigentlich eine Zahl ist. Oder wo die Grenzen von Sätzen liegen, die in mathematischen Systemen bewiesen werden können. Und was bedeutet das für die Grenzen der Rechenleistung von Computern? 

Die Unendlichkeit hat für Grabmayrs Fachgebiet einen besonderen Reiz – ganz so wie für Papst Leo und dessen Fachgebiet


1 Stanford Encyclopedia of Philosophy: https://plato.stanford.edu/entries/infinity/ 

2 Stanford Encyclopedia of Philosophy: https://plato.stanford.edu/entries/infinity/ 

3 Dauben, Georg W., „Georg Cantor and Pope Leo XIII: Mathematics, Theology and the Infinite“, Journal of the History of Ideas, Vol. 38, No.1 (Jan–March 1977), pp. 85-108; https://www.jstor.org/stable/2708842?seq=1 

Text: Balthasar Grabmayr


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