Alle diese Texte können ihre Besonderheiten ganz oder teilweise wieder verlieren, wenn die entsprechenden Praktiken sich ändern oder nicht mehr greifen bzw. im Zuge historischer Wandlungsprozesse Autoritätsansprüche nicht mehr anerkannt werden. Die interdisziplinäre und komparative Analyse dieser gegenläufigen Dynamiken von Sakralisierung und Desakralisierung in unterschiedlichen sozialen, kulturellen und religiösen Kontexten stellt das gemeinsame mittel- und langfristig angelegte Forschungsvorhaben dar. Ein intuitives Verständnis von vermeintlich säkularen oder vermeintlich sakralen Texten soll durch unseren praxistheoretischen Forschungsansatz überwunden werden. Wir wollen besser verstehen, durch welche Lese- und Gebrauchspraktiken und welche spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen Texte sakralisiert bzw. desakralisiert werden. Dabei rechnen wir auch mit graduellen Abstufungen und Überlappungen in Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozessen, die eine kategoriale Grenzziehung sakral versus profan nicht immer als klar durchführbar erscheinen lassen. Als interdisziplinäre Gruppe, in der unterschiedliche religiöse Traditionen und Regionalwissenschaften vertreten sind, wollen wir uns diesem Komplex in dezidiert komparatistischer Weise widmen und zu dem kulturwissenschaftlichen, in sich interdisziplinären Diskurs über Sakralität einerseits und seiner Rezeption in den von der Gruppe vertretenen Fachwissenschaften andererseits beitragen. Das Forschungsvorhaben zielt auf funktionale und prozesshaft zu verstehende Differenzmerkmale von kulturell prägnanten Texten (Cassirer 1982, 235), indem diese etwa identitätsstiftend für ihre jeweiligen Auslegungsgemeinschaften wirken, Orientierungskraft für die Gestaltung des individuellen und sozialen Lebens entfalten und eine diskursive Referenzgröße für gesellschaftliche Verständigungsprozesse über Werte und Normen bilden. Dabei können sie gegensätzliche Funktionen erfüllen, indem sie existierende Normen, Institutionen und Autoritäten stützen oder infrage stellen. Die Texte sowie die aus ihnen abgeleiteten Ansprüche erscheinen in bestimmten Kontexten als nicht verhandelbar, haben Anteil an Rhetoriken der Unverfügbarkeit und sie erzeugen Spannungen, wenn sie etwa in Konkurrenz zueinander treten. Die Konstitutionsbedingungen sakralisierter bzw. desakralisierter Texte können durch den hier zugrunde gelegten praxistheoretischen Forschungsansatz als Dynamiken der Steigerung bzw. Einebnung der ihnen zugeschriebenen Besonderheiten und Orientierungsleistungen analysiert werden.