Uni-Tübingen

Fragen und Antworten zu Tierversuchen

Warum braucht man Tierversuche für die Grundlagenforschung?

Viele Prozesse im menschlichen Körper, die Funktion verschiedener Strukturen und deren hochkomplexes Zusammenspiel verstehen wir noch nicht. Einzelne Prozesse in einem lebenden Organismus lassen sich tatsächlich isoliert studieren. Aber nur an einem lebenden Tier können die spezifischen Interaktionen zwischen den einzelnen Organen, Zellen und Zellbausteinen studiert werden. Oft führt die vergleichende Untersuchung bei verschiedenen Tierarten zu ganz neuen Einsichten. Deshalb ist auch die Grundlagenforschung auf Tierversuche angewiesen. Grundlagenforschung von heute ist die Basis der medizinischen, angewandten Forschung von morgen. Andererseits ergeben sich aus der angewandten Forschung neue Fragen, die in die Grundlagenforschung einfließen. Mit anderen Worten: Grundlagenforschung und angewandte Forschung bedingen sich gegenseitig und führen zum Fortschritt in der praktischen Medizin. Die Zahl der für die Forschung eingesetzten Versuchstiere macht lediglich 0,5 Prozent aller Tiere aus, die jährlich in Deutschland getötet werden. Die anderen 99,5 Prozent dienen unserer Ernährung.

Haben Tierversuche medizinischen Fortschritt gebracht?

Die Bekämpfung und Heilung vieler früher tödlicher Krankheiten sind für uns heute selbstverständlich. Doch nur dank Tierversuchen konnten Antibiotika, Impfstoffe gegen Krankheiten wie Kinderlähmung (Polio) und Insulin für an Diabetes leidende Menschen entwickelt werden. Rund 80 Prozent der an Leukämie erkrankten Kinder können heute geheilt werden. Die zur Bekämpfung dieser heimtückischen Krankheit entwickelten Therapien stehen uns unter anderem Dank Tierversuchen zur Verfügung. Es ist nicht auszudenken, wo wir heute in der Behandlung von Herz-Kreislauferkrankungen, bei den verschiedensten Formen von Krebs, AIDS aber auch in der Chirurgie ohne Tierversuche stünden. Tagtäglich profitieren Millionen von Patientinnen und Patienten von dieser Forschung.

Wie wichtig Tierversuche für den medizinischen Fortschritt sind, lässt sich an der Vergabe von Nobelpreisen in Physiologie und Medizin ablesen. Seit 1900 wurde der Nobelpreis für Physiologie und Medizin rund 70 Mal an Forscher vergeben, deren bahnbrechenden Erkenntnisse nicht zuletzt mittels Tierversuchen gewonnen werden konnten. Die Liste reicht von der Entdeckung des Insulins und des Penicillins bis zur heutigen AIDS-Behandlung und den Erkenntnissen über das Funktionieren des Immunsystems oder des Gehirns.

Gibt es auch einen Nutzen für Tiere?

Auch die Haus-, Nutz- und Wildtiere profitieren von Tierversuchen, den daraus gewonnenen Ergebnissen und Produkten: Antibiotika, Impfstoffe, Narkose- und Schmerzmittel sind nur einige Beispiele unter vielen. Die Kinderlähmung (Polio) konnte dank eines Impfstoffes, der ursprünglich an Affen entwickelt wurde, nahezu ausgerottet werden. Der gleiche Impfstoff schützt heute auch Schimpansen in der Wildnis vor dieser Krankheit. Des Weiteren wurden Impfstoffe und Medikamente entwickelt, die auch oder ausschließlich den Tieren zugute kommen wie etwa Impfstoffe gegen Tollwut oder Hundestaupe. Die an Rhesusaffen gegen Ebola entwickelten Impfstoffe versprechen auch die extrem bedrohten Restpopulationen westafrikanischer Gorillas zu schützen.

Sind Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragbar?

Die Bestandteile von Körperzellen und die biochemischen Mechanismen, die Lebensvorgängen zu Grunde liegen, weisen bei den verschiedenen Tierarten sehr große Ähnlichkeiten zum Menschen auf. Die molekulare Genetik kann beweisen, dass alle heute lebenden Organismen den gleichen Ursprung haben und dass für den Körperaufbau verantwortliche und im Laufe der Zeit modifizierte Gene die materielle Basis für die Abfolge der Lebewesen durch alle Erdzeitalter bilden. Durch diese Ähnlichkeiten sind sogar Vergleiche menschlicher Gene und Stoffwechselprozesse mit denen von Bakterien, Pilzen und Hefen möglich. Somit ist bei Eingriffen in die allgemeinen Stoffwechselwege prinzipiell eine Übertragbarkeit der wissenschaftlichen Befunde von Mikroorganismen auf Tiere und Menschen zu vermuten.

Bei höher entwickelten Tieren und beim Menschen sind die Körperfunktionen jedoch wesentlich komplizierter als bei niedrigeren Organismen, da sie auf einer Vielzahl von spezialisierten Zelltypen und Organen beruhen. So kann ein Wirkstoff in der Leber zwar eine gewünschte Wirkung besitzen, aber von den Leberzellen chemisch so verändert werden, dass dabei eine für das Zentralnervensystem schädigende Verbindung entsteht. Dies zeigt, dass die Übertragung von Reaktionsweisen von Zellverbänden auf die Reaktion des gesamten Organismus äußerst schwierig sein kann. Aus diesem Grund sind neben Untersuchungen auf zellulärer Ebene (Ergänzungsmethoden) stets auch Untersuchungen am Gesamtorganismus notwendig. Wegen der Ähnlichkeiten von Zell- und Organfunktionen bei Säugetieren geht man davon aus, dass eine Übertragbarkeit vom Tier auf den Menschen meistens möglich ist. Diese Grundvermutung gilt sowohl für die erwünschte als auch für die schädigenden und toxischen Wirkungen eines Stoffes. Durch Tierversuche lassen sich erwünschte und etwa 70 Prozent der unerwünschten Wirkungen, die den Menschen betreffen, vorhersagen. Ein Beispiel hierfür ist die Acetylsalicylsäure (Wirkstoff des Schmerzmittels Aspirin®). Sie wirkt bei Ratte und Mensch schmerzlindernd, aber bei beiden kann es nach der Einnahme zu erhöhter Blutungsneigung kommen. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse vom Tier auf den Menschen gilt auch im umgekehrten Sinne: Arzneien, die erfolgreich für die Behandlung von Menschen eingesetzt werden, können auch für Haustiere genutzt werden.

Haben wir keine Alternativen zu Tierversuchen?

Alternative Methoden sind wertvoll, hochwillkommen und werden in der biomedizinischen Forschung wenn immer möglich eingesetzt und weiter entwickelt. Allerdings wäre es naiv zu glauben, sie würden Tierversuche in der biomedizinischen Forschung grundsätzlich verzichtbar machen. Tierversuche sind notwendig, wenn physiologische Zusammenhänge und ihre Störungen im Organismus aufgeklärt werden sollen. Dazu gehören Untersuchungen des Zentralnervensystems und der Verarbeitung von Sinnesreizen, das Zusammenspiel des Kreislaufsystems, des Verdauungsapparates, des Hormonsystems, des Immunsystems sowie die Grundlagen des Verhaltens. Bei der Genehmigung von Tierversuchen prüfen die Behörden, ob ein solcher Versuch unerlässlich ist oder ob die angestrebten Erkenntnisse auch ohne den Einsatz von Tieren gewonnen werden können.

Bei alternativen Methoden handelt es sich im Idealfall um Verfahren, die vollständig auf den Einsatz von Tieren verzichten. Gemeint sind in diesem Zusammenhang vor allem Arbeiten mit Zelllinien. Dies ist in der Tat ein Idealfall – im Sinne eines Wunschbildes – denn die Komplexität eines Organismus, also das Zusammenwirken von Organen und Geweben, kann nicht vollständig durch künstliche Systeme ersetzt werden. Schon jetzt nehmen Versuchsmethoden außerhalb des Organismus, so genannte in vitro-Verfahren (in vitro = „im Glas“), einen großen Raum in Forschung und Forschungsförderung ein. Aber trotz aller Fortschritte in diesem Bereich kann mit diesen Verfahren der intakte Organismus nicht ersetzt werden, und dessen Reaktion muss letzten Endes in vivo („im Leben“), also im Tierversuch, geklärt werden. Im Übrigen müssen auch für Herstellung von Organ- und Zellkulturen Tiere getötet werden. Für die Kultivierung der Zelllinien ist oft Kälberserum aus Schlachttieren als Nährsubstanz notwendig, um die Teilung, das Wachstum und die Differenzierung der Zellen anzuregen.

Neben Zelllinien kann die Computersimulation eine Ergänzung zum Tierversuch sein. In der biomedizinischen Forschung wird diese eingesetzt, um Hypothesen über Lebensvorgänge abzubilden und anhand von theoretischen Modellen zu überprüfen. Diese Technik wird häufig in der Neurobiologie verwendet, um Funktionen des zentralen Nervensystems zu veranschaulichen. Letztlich müssen aber auch die Aussagen der Simulation im Tierversuch überprüft werden. Möglich werden Computersimulationen erst, wenn wir bereits Informationen über das abzubildende System haben, mit der wir den Computer „füttern“ können. Es gibt bisher keine Möglichkeit diese Informationen anders als über den Versuch im lebenden Organismus zu erlangen. Zudem muss jede Computersimulation vereinfachen, weil sie ansonsten bereits an der Komplexität einer einzelnen Zelle scheitern müsste. Das menschliche Gehirn besteht aber nicht aus einer Nervenzelle, sondern aus 86 Milliarden Nervenzellen mit bis zu 1000 Verbindungen untereinander, die wiederum durch viele einzelne Kontaktstellen vernetzt sind – die komplexeste Struktur, die uns Menschen bekannt ist.

Leiden Tiere in den Experimenten?

Forscher, Tierärzte und Tierpfleger werden alles tun, um Schmerz und Leid in Labors zu minimieren. Viele der durchgeführten Tierversuche beinhalten keine Schmerzen oder Unbehagen, wie zum Beispiel die Beobachtung ihres Verhaltens oder das Sammeln von Gewebeproben vom toten Tier. Dennoch gibt es Experimente, die Schmerzen oder Unbehagen für Labortiere mit sich bringen können, wenn die Art des Experiments es unvermeidlich macht. In diesen Fällen werden alle Anstrengungen unternommen, um die entstehenden Schmerzen auszuschalten oder doch weitestgehend zu lindern, zum Beispiel durch Verwendung einer adäquaten Anästhesie und Analgesie während und nach Operationen. Forscher tun alles, um jedes Leid auf Seiten der Tiere, die sie in der Forschung nutzen zu minimieren, und wo Leiden unvermeidlich ist, ergreifen sie jede mögliche Maßnahme, um dieses Leiden auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

Wir sind uns der großen ethischen Verantwortung bewusst, die mit Tierversuchen in der biologischen und medizinischen Grundlagenforschung verbunden ist. Alle hier stattfindenden Tierversuche werden stets im Vorfeld von der Tierversuchskommission sorgfältig geprüft und von der zuständigen Behörde genehmigt.

Wer kümmert sich um das Wohlergehen der Tiere im Labor?

Jeder, der mit Tieren in Laboren arbeitet, kümmert sich um ihr Wohlergehen. Es gibt zahlreiche Berufsgruppen, die aktiv zum Wohl der Labortiere beitragen: Tierpfleger, Techniker, Fachtierärzte und Wissenschaftler. Die Tiere werden mit Mitgefühl und Respekt von den Profis behandelt, die für ihre täglichen physischen und psychischen Bedürfnisse Sorge tragen. Die Haltung der Tiere in den Forschungseinrichtungen der Universität Tübingen erfolgt unter Berücksichtigung aller Bestimmungen des Tierschutzrechtes und internationaler Übereinkommen. In vielen wissenschaftlichen Experimenten sind Wissenschaftler der Universität am normalen Verhalten der Tiere interessiert. Dessen Beobachtung erfordert unverzichtbar die konzentrierte Mitarbeit gesunder, sich wohl fühlender Tiere.

Selbst einzelne Wissenschaftler äußern sich kritisch zu Experimenten mit Affen oder Mäusen. Beweist das nicht, dass Erkenntnisse aus Tierversuchen wertlos sind?

Wissenschaft lebt von einem kritischen Diskurs und das heißt auch von unterschiedlichen Sichtweisen. Wissenschaftliche Modelle wie die Relativitätstheorie, die Urknalltheorie oder die Psychoanalyse waren teils über Jahrzehnte hinweg Gegenstand kontroverser Debatten. Auch beim Einsatz von Versuchstieren sind Wissenschaftler nicht immer einer Meinung. Von Tierrechtsaktivisten werden daher gerne einzelne Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler zitiert, die die Aussagekraft der in Tierversuchen gewonnenen Erkenntnisse bezweifeln. Solche Äußerungen gelten Tierversuchsgegnern dann oft schon als Beweis, dass Tierversuche sinnlos sind.


Dabei wird ausgeblendet, dass für die übergroße Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der biomedizinischen Grundlagenforschung die Aussagekraft von Tierversuchen über jeden Zweifel erhaben ist. Allerdings ist diesen Forscherinnen und Forschern auch klar, dass nicht jedes Ergebnis aus Tierversuchen eins zu eins auf den Menschen übertragbar ist. Die Aussagekraft eines Tierversuchs ist – wie die Aussagekraft jedes anderen wissenschaftlichen Experimentes - immer begrenzt und muss durch Untersuchungen mit anderen Ansätzen komplettiert und hinterfragt werden. Tierversuche bleiben daher immer nur ein wissenschaftlicher Baustein, allerdings ein unverzichtbarer.

Seit Jahrzehnten wird jetzt mithilfe von Tierversuchen an Hirnerkrankungen geforscht. Warum gibt es trotzdem nur so wenige Therapien?

Das menschliche Gehirn besteht aus rund 86 Milliarden Nervenzellen, die über bis zu 86 Billionen Verknüpfungen verfügen. Damit ist unser Gehirn nicht nur das komplexeste, sondern auch das bei weitem komplizierteste Organ, das im Laufe der Evolution entstanden ist. Anders als bei allen anderen Organen lassen sich bestimmte Funktionen nicht immer einzelnen Hirnarealen zuweisen. Es ist vielmehr das Zusammenspiel unterschiedlicher Hirnareale, Nervenzellen und den von ihnen gebildeten Netzwerken, die die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ausmachen. Diese wenigen Zeilen sollen ansatzweise deutlich machen, wie groß die Herausforderung für diejenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist, die sich mit neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer, Epilepsie, Parkinson oder Multipler Sklerose befassen. Denn ähnlich komplex wie das Gehirn sind auch die Erkrankungen, von denen das Gehirn getroffen werden kann. Entsprechend schwer sind ihre Mechanismen zu verstehen.

Dennoch ist unübersehbar, dass es in den letzten Jahrzehnten erste Erfolge im Kampf gegen verschiedenste Erkrankungen des Gehirns und der Sinnesorgane gegeben hat, fast immer auf der Basis von Tierversuchen. Für die Therapie von Multipler Sklerose sind inzwischen eine Reihe neuer Medikamente mit verbesserter Wirksamkeit entwickelt und zugelassen worden. Weitere befinden sich in der klinischen Erprobung. Der Morbus Parkinson kann über viele Jahre erheblich durch Medikamente gelindert werden. Alle diese Medikamententherapien basieren auf Erkenntnissen, die im Tierexperiment gewonnen wurden. Ein wesentlicher Fortschritt in der Behandlung der Parkinsonschen Krankheit aus jüngster Zeit, die sogenannte Tiefe Hirnstimulation, wurde maßgeblich auf der Basis von Affenversuchen entwickelt. Diese neue Therapieform wird inzwischen bei mehr als 100.000 Patienten weltweit erfolgreich eingesetzt. Auch bestimmte Epilepsieformen verstehen wir dank Tierversuchen inzwischen besser. So konnten Tübinger Forscher kürzlich zeigen, dass die bei Kleinkindern gefürchteten Fieberkrämpfe sich auf eine genetische Veränderung zurückführen lassen. Oft ist der Weg von der Erkenntnis bis zur Therapie sehr weit. Auf der Basis von mehr als 100 Jahren Grundlagenforschung auch an Tieren konnten Neurowissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten das so genannte Cochlea-Implantat entwickeln, das völlig tauben Menschen ein Sprachverständnis zurückbringen kann.