Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2013: Forschung

Erst der Staat, dann die Nation

Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 923 „Bedrohte Ordnungen“ an der Universität Tübingen

Krieg und Revolution bedrohen die etablierte Ordnung bestehender Staaten – und führen nicht selten zu neuen. So war es nur folgerichtig, dass sich der Sonderforschungsbereich (SFB) 923 „Bedrohte Ordnungen“ an der Universität Tübingen im Rahmen seines Forschungsprogramms dieses Zusammenhangs aus historischer und globaler Perspektive annahm. Anlass war der 70. Geburtstag des Tübinger Emeritus, Professor Dr. Dr. Dieter Langewiesche. In Vorträgen und Diskussionen betrachteten die eingeladenen Forscher, zum größten Teil Historiker, die Trias „Revolution – Krieg – Bildung von Nationen“.


„Fehlt da nicht etwas?“, fragte Professor Dr. Jürgen Osterhammel, Universität Konstanz, zu Beginn seiner Key Note Lecture, und fügte der Liste den Begriff „Bürgerkrieg“ hinzu. Dieser habe besonders in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen. Der Konflikt in Syrien, den Osterhammel nicht als Revolution ansieht, sei ein aktuelles Beispiel. Die Revolutionen in Ägypten und Tunesien dagegen könnten nach Osterhammels Ansicht in einen Bürgerkrieg abdriften.


Die Entstehung von Staat und Nation in den Vereinigten Staaten von Amerika beleuchtete der Soziologe Professor Dr. Wolfgang Knöbl von der Universität Göttingen. Der Unabhängigkeitskrieg 1775/76 mobilisierte die Bevölkerung – allerdings sollte jede Kolonie für sich unabhängig werden. Es war die zunehmende Schuldenlast durch den Krieg, die zur Gründung der Vereinigten Staaten führte. Die Schulden sollten zumindest teilweise auf die Zentralregierung abgewälzt werden.

Ein weiteres verbindendes Element, das vor allem der US-amerikanische Präsident Thomas Jefferson (1801-1809) nutzte, war die Anglophobie. Doch wie wenig in den „Vereinigten Staaten“ eine gemeinsame Identität bestand, zeigte unter anderem der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. So stellte Knöbl fest: „Der Weg aus der Revolution zum Staat war in den USA enorm lang.“

Ähnlich war der Ablauf in der Türkei. Hier trieb Mustafa Kemal, genannt Atatürk, die Gründung der modernen Türkei voran. Die Nationwerdung kam viel später und wurde zudem „von oben“ erzwungen, beschrieb Professor Dr. Stefan Plaggenborg von der Ruhr-Universität Bochum die Entwicklung.


Die Aufstände am Anfang des 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich gegen den Sultan waren noch von vielen Volksgruppen getragen worden, darunter Griechen, Armenier und Juden. Dennoch schritt der Zerfall des Staates voran, und Mustafa Kemal erkannte, dass eine einige türkische Nation sich wohl nur über die gemeinsame Sprache definieren ließe, so Plaggenborg. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit wurde von der herrschenden Elite teils gewaltsam erzwungen – mit Zwangsassimilationen oder mit der Ausgrenzung von Nicht-Türken und Nicht-Muslimen, sagte Plaggenborg.


In seinem abschließenden Kommentar griff Dieter Langewiesche das Thema der schwierigen Nationsbildung noch einmal auf – und erweiterte es um den Aspekt des Krieges. Sehr häufig hätten nämlich junge Staaten erst durch Kriegserfahrungen ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Der äußere Feind weckte das innere Gemeinschafts- und damit Nationalgefühl. Die entstandenen Nationen, so Langewiesche, waren „anschlussfähig“ an sehr verschiedene Staatskonzepte – nicht nur an Rechtsstaaten.


Schwerpunkt in der Forschung von Dieter Langewiesche sind Revolutionen, Staatsbildung und Nationalismus in Deutschland und Europa im 19. Jahrhundert. Deshalb dankte er in seinem Schlusswort den Referenten für die neuen Erkenntnisse, die er in dem Kolloquium bekommen habe. Im Jahr 1978 trat Langewiesche seine erste Professur in Hamburg an. In Tübingen lehrte er von 1985 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008, als Professor für mittlere und neuere Geschichte. In dieser Zeit leitete er den Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen“. Langewiesche war Mitglied des Wissenschaftsrates und Fellow am Wissenschaftskolleg. Er erhielt 1996 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis und 2001 den Erwin-Stein-Preis.


Jörg Schäfer