2019 ist ein Jahr mit vielen bedeutenden Jubiläen für die Wissenschaft. Einer dieser Jahrestage ist besonders eng mit Tübingen verbunden: Vor 150 Jahren entdeckte Friedrich Miescher im Schlosslabor der Universität die Nukleinsäure. Die Grundsubstanz von DNA und RNA als zentraler Träger der Erbinformation ist hier erstmals isoliert worden – die ganze Tragweite dieser wissenschaftlichen Leistung wurde erst Jahrzehnte später begriffen.
Die wenigen erhaltenen Fotografien von Mieschers damaliger Wirkungsstätte lassen den Betrachter staunen. Räume und Apparaturen des Schlosslabors erinnern eher an eine mittelalterliche Alchimistenküche als an ein neuzeitliches Labor. Es ist verblüffend, dass auch mit den beschränkten Werkzeugen des 19. Jahrhunderts exzellente Wissenschaft möglich war, deren Ergebnisse teils bis heute gültig sind.
Betrachtet man Leben und Werk großer Naturforscher, so fallen Denk- und Verhaltensmuster auf, die bis heute beispielgebend sind. Zehn Jahre vor Miescher hatte Charles Darwin sein bahnbrechendes Werk über die Entstehung der Arten veröffentlicht. Die bis heute in den Grundzügen gültige Evolutionstheorie war nicht nur das Ergebnis von jahrelanger Forschungsarbeit, sondern auch einer permanenten selbstkritischen Prüfung. Er habe es sich über viele Jahre zur Gewohnheit gemacht, alle Fakten und Beobachtungen, die augenscheinlich seiner Theorie widersprachen, sofort zu notieren, berichtete der Naturforscher in seiner Autobiografie.
Auch bei Miescher beobachten wir eine kritische Distanz gegenüber den eigenen Ergebnissen. Im Hinblick auf die genetische Rolle des Nukleins blieb er zeitlebens vorsichtig. „Sofern wir [...] annehmen wollten, dass eine einzelne Substanz [...] auf irgendeine Art [...] die spezifische Ursache der Befruchtung sei, so müsste man ohne Zweifel vor allem an das Nuclein denken“, schrieb Miescher 1874, fünf Jahre nach seiner bahnbrechenden Entdeckung – ein Satz mit dreifachem Konjunktiv. Mehr Zurückhaltung ist kaum vorstellbar.
In den vergangenen Jahren ist sehr viel über die Krise des Wissenschaftssystems geschrieben und diskutiert worden. Nahezu im Wochentakt erscheinen neue Berichte über Plagiate, gefälschte Forschungsdaten oder Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis. Immer wieder wird dafür das wissenschaftliche System selbst verantwortlich gemacht, das Forscherinnen und Forscher in einen permanenten Konkurrenzkampf um Ressourcen zwinge. Das ist für die Betroffenen oft quälend, aber heute nicht anders als vor 150 Jahren. Faktisch waren die Ressourcen zur Zeit Darwins und Mieschers allerdings noch deutlich knapper als heute. Ich halte es daher für zu kurz gegriffen, für die aktuelle Situation allein den Kampf um feste Stellen oder öffentliche Anerkennung verantwortlich zu machen.
Wenn wir überzeugende Forschung mit nachhaltigen Ergebnissen schaffen wollen, brauchen wir optimale Entwicklungsmöglichkeiten für Forscherinnen und Forscher und Labore mit einer zeitgemäßen technischen Ausstattung. Doch diese materiellen Ressourcen allein sind nicht ausreichend. Wir benötigen darüber hinaus immaterielle Ressourcen, die aber nicht weniger wertvoll sind: wissenschaftliche Neugierde, analytisch geschulten Zweifel – auch den eigenen Ergebnissen, Hypothesen und Theorien gegenüber – und nicht zuletzt eine unbedingte Ehrlichkeit vor sich selbst und der Wissenschaft. Kein modernes Messgerät kann das ersetzen. Es sind diese Werte, es ist diese Haltung, die uns den Weg weisen müssen, eigentlich immer, aber insbesondere in einer Krise des Wissenschaftssystems.
Viel Vergnügen bei der Lektüre des Newsletters wünscht
Ihr
Professor Dr. Bernd Engler, Rektor