Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2020: Forschung

Voranschreiten, Zurückschreiten, Durchschreiten

Der Workshop „Paradoxien des Fortschritts“ wurde mit Mitteln aus der Exzellenzstrategie gefördert

Kann Kunst in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zum gesamtgesellschaftlichen Fortschritt beitragen? Die historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts hätten diese Frage wohl energisch und entschieden mit ‚Ja‘ beantwortet. Doch mit welchen Mitteln ist der Fortschritt zu erzielen und wie radikal darf er eingefordert werden? Finden die Künste dabei eine geschlossene Stimme, um damit kohärent eine Richtung vorzugeben? Und wie verorten sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler in diesem Spannungsfeld?

Diesen Fragen widmete sich der dreitägige Workshop „Paradoxien des Fortschritts. Globale Durchlässigkeiten und Wandlungen avantgardistischer Ideen und Praktiken“. Er fand Anfang März 2020 an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart statt und wurde sowohl von der der Universität Tübingen mit Mitteln aus der Exzellenzstrategie als auch von der Akademie Schloss Solitude gefördert.

In unterschiedlichen Formaten – Vorträgen, Lesungen, Installationen und Performances – traten Forscherinnen und Forscher aus den Bereichen der Kunstgeschichte, der Philosophie, der Literatur- und Medienwissenschaft während des Workshops in einen umfassenden Dialog mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die als Artist in Residence an der Akademie Schloss Solitude tätig sind. Der ungewöhnliche, gleichwohl produktive Austausch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Analyse und Kreativität wurde von den Teilnehmenden hernach als ‚membrane practice‘ bezeichnet. Denn die Veranstaltung machte deutlich, dass Durchlässigkeit als Imperativ für den Fortschritt notwendig ist. Durchlässigkeit, um einen interdisziplinären, globalen und nachhaltigen Austausch zwischen den Institutionen und ihrem jeweiligen Publikum zu generieren. Durchlässigkeit, um Diskurse und Konventionen zu durchbrechen und neue Räume zu erschließen. Durchlässigkeit auch in der Vermittlung, der Veräußerung und der Aushandlung dessen, was Fortschritt darstellen soll. Insofern stellt das Ergebnis der Veranstaltung zugleich eine Zielrichtung für zukünftiges – auch akademisches – Handeln dar.

Der Workshop verstand sich als Experiment. Die Mitwirkenden verließen dabei in experimentellen Begegnungsräumen das jeweils sicher geglaubte Terrain, um dieses im Dialog mit sehr unterschiedlichen Sensibilitäten wieder neu zu erkunden. Neben den Erfahrungen des intensiven Sehens und Hörens wurde die Veranstaltung auch um die Erfahrung des Schmeckens bereichert: alle durften am Ende des Workshops die von der Matriarchalen Volksküche nach futuristischer Originalrezeptur zubereiteten und servierten Drinks verköstigen. Die „Paradoxien des Fortschritts“ wurden dadurch nicht nur als Sujet, sondern geradezu als Aufforderung greifbar: Man muss innehalten, mutig genug sein, um sich auch mal zurückzubewegen, damit man letztlich voranschreitet.

Vor rund einem Jahr reichten die Organisatorinnen und Organisatoren bei der Abteilung Exzellenzstrategie der Universität Tübingen den Antrag für ihren Workshop ein. Dieses Format im Rahmen der Nachwuchsförderung schien ihnen der beste Weg zu sein, um mit ihrer eigenen Avantgardeforschung voranzuschreiten: Die internationale Ausrichtung der Ausschreibung passte hervorragend zu dem Vorhaben, die Avantgardeforschung aus einer globalen Perspektive zu beleuchten und hierfür internationale Gäste sowie bekannte Alumni der Universität Tübingen einzubinden.

Das im Mai 2019 vom Literaturhaus Stuttgart und der Akademie Schloss Solitude veranstaltete ‚Membrane-Festival‘ regte die Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler dazu an, das Konzept der „Durchlässigkeit“ aufzugreifen und die inhärenten Paradoxien des Fortschrittgedankens auf den Prüfstand zu stellen. In Zusammenarbeit mit der Akademie Schloss Solitude wurde die Projektidee weiterentwickelt und konkretisiert, diese Kooperation trug zum Erfolg des Antrags bei. Bei der Organisation des Workshops standen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Exzellenzstrategie stets beratend und unterstützend zur Seite.

Ralf Michael Fischer, Andrée Gerland, Larissa Maria Müller, Thea Santangelo