International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Die Dynamiken der Krise

Über ambivalente Entschleunigung und prekäre Systemrelevanz

von Marco Krüger

24.04.2020 · Die Begriffe Entschleunigung und Systemrelevanz prägen die gegenwärtige politische Debatte. Entschleunigung beschreibt mitunter romantisierend die Ausbremsung des öffentlichen Lebens – und damit die Einschränkung der individuellen Freiheiten – durch die Schließung vieler gesellschaftlicher Bereiche. Daneben bestimmt auch die rhetorische Figur der Systemrelevanz die politische Debatte. Der Begriff meint all diejenigen, die für den Erhalt der Gesellschaft als unverzichtbar gelten. Dabei werden die unterschiedlichen, als systemrelevant erkannten Berufsgruppen homogenisiert und so gravierende Unterschiede zwischen ihnen verschleiert. Die Betroffenen werden dabei zum kollektivierten Instrument, das dem Schutz der Gesellschaft dient. Hieraus erwachsen Gerechtigkeitsproblematiken. Dieser Beitrag zielt daher darauf ab, unterschiedliche durch die COVID-19-Pandemie hervorgerufene gesellschaftliche Dynamiken sichtbar und die damit verbundenen Privilegierungs- und Marginalisierungsprozesse verhandelbar zu machen.

Angesichts des fast vollständigen Stillstands des öffentlichen Lebens in Italien fragt der Philosoph Gorgio Agamben konsterniert: „Und was ist das für eine Gesellschaft, die keinen anderen Wert mehr hat als das eigene Überleben?“ Agamben betrachtet die Komplettaufgabe des gesellschaftlichen Lebens, die alles der fatalistischen Fixierung auf das biologische Überleben unterordne, mit großer Sorge. In einem weiteren Beitrag drei Wochen später befürchtet er gar, dass auf eine solche, auf das bloße Überleben getrimmte Gesellschaft nur eine Tyrannei zu gründen wäre. Agamben zeichnet dabei das dystopische Bild von Regierungen, die Freiheitseinschränkungen fortführen und damit den Ausnahmezustand perpetuieren könnten.

In der Tat erscheint die politische Bearbeitung von Corona autoritäre Entwicklungen in einigen Ländern zu beschleunigen oder gar zu verstärken. Allerdings wirkt COVID-19 dabei vor allem als Trendverstärker, nicht als Ursache einer plötzlichen Autokratisierung. Eingriffe in die demokratischen Grundrechte sind selbstverständlich stets in hohen Maße begründungsbedürftig. Dennoch gibt es hierzulande eine noch immer funktionierende Rechtsprechung zur Ausgestaltung der eingeschränkten Grundrechte. Mehr noch lassen die ersten vollzogenen Lockerungen, die vielfältigen Debatten über möglichst zügig aufzuhebende weitere Beschränkungen, die Zahlung wirtschaftlicher Hilfen und die Bedeutung des Datenschutzes Agambens Ausführungen als alarmistisch und in ihrer Generalisieriung fast schon abstrus erscheinen.

Auch ist es keinesfalls so, dass alle Menschen in der gegenwärtigen Situation alles für die Sicherung ihres Überlebens aufgäben. Vielmehr zeigt sich eine doppelte Ungerechtigkeit. Einerseits die zwischen den Betroffenen einer privilegierten und denen einer prekarisierten Entschleunigung. Andererseits die zwischen der Individualisiertheit der privilegierten Entschleunigung und der kollektivierenden Systemrelevanz, die die Bedarfe der einzelnen als systemrelevant erachteten Menschen zugunsten ihrer gesellschaftlichen Funktion hintanstellt.

Die medial ausgetragene Debatte zwischen den Soziologen Hartmut Rosa und Armin Nassehi veranschaulicht diesen Konflikt. Anschließend an seine früheren Arbeiten erkennt Rosa den Virus als den „radikalste[n] Entschleuniger, den wir in den letzten 200 Jahren erlebt haben“ . Dabei sieht er eine generelle Verlangsamung des Lebens, ein Anwachsen der Unverfügbarkeit von Produkten und sozialen Kontakten sowie das Zurückgeworfensein auf einen lokalen Bewegungsradius. Nassehi kritisiert diese Analyse und sieht exakt diese Entschleunigung als Erfahrung eines privilegierten Bevölkerungsteils.1 Wer Kinder zuhause zu betreuen oder An- oder Zugehörige zu pflegen hat, wer keinen Beruf hat, der Homeoffice erlaubt, wird von anderen Erfahrungen als Entschleunigung berichten. Für wen die eigene Wohnung kein sicherer Ort ist, wer unter Vereinsamung leidet oder sich in einer fragilen Lebenssituation befindet, empfindet die Auszeit und das Zurückgeworfensein auf sich selbst vermutlich nicht als heilsame Katharsis. Und auch Menschen, die aufgrund des Verlusts des Arbeitsplatzes oder einer eventuellen Kurzarbeit auf Teile ihres Einkommens verzichten müssen, sehen sich vermutlich eher mit existenziellen Sorgen konfrontiert, als dass sie Rosas partielle Romantisierung der erzwungenen Entschleunigung teilen. Kurz: Die positiv empfundene Entschleunigung ist ein Privileg. Das Privileg einer individualisierten, mobilen und oft gut gebildeten Personengruppe.

Die zweite Ungerechtigkeit besteht in der ungleichen Verteilung von Privilegien zwischen denen, die Entschleunigung positiv zu besetzen imstande sind, und denen, die als systemrelevant gelten. Während über die Privilegien der einen bereits einiges geschrieben wurde, herrscht jedoch eine erstaunliche Ruhe um den Begriff der Systemrelevanz. Der Philosoph Luca di Blasi bildet dabei eine Ausnahme und befürchtet, „dass das ‚System‘ selbst in den Bereich des Unhinterfragten entrückt wird“. Der Erhalt des Systems in der aktuellen Form werde dabei implizit als per se erstrebenswert angenommen. Viel grundsätzlicher stellt sich jedoch die Frage, worauf ein System genau beruht, für das primär Ernährung-, Sicherheits-, Gesundheits- und Pflegeinfrastruktur relevant sind. Ist es – Agamben folgend – dann doch ein System, das nur noch um das nackte Überleben seiner Bestandteile bemüht ist? Nein, denn obwohl dieser Tage vor allem von Pflegepersonal, Ärzt*innen, LKW-Fahrer*innen und Regaleinräumer*innen als systemrelevant gesprochen wird, bleibt auch die Funktionalität von Justiz und Medien, von technischer Infrastruktur und Onlinehandel gewahrt. Auch bieten Museen und Kulturschaffende Onlineangebote. Es geht also um mehr als nur um das nackte Überleben. Dennoch fehlt der Diskurs darüber, was weshalb wie relevant für unsere Gesellschaft, um nicht „das System“ zu sagen, ist. Insofern gilt es den Begriff der Systemrelevanz zu reflektieren und über das überlebenswichtige Maß auszuweiten.

Für nicht wenige der als „systemrelevant“ erkannten Personen ergibt sich jedoch ein ganz anderes Problem. Zwar erfahren sie als essenzielle Stützen der Gesellschaft Anerkennung, sei es durch öffentlichen Applaus oder, zumindest im Falle einiger Berufsgruppen, durch eine finanzielle Zuwendung. Dennoch leben sie in einer prekären Situation, setzen sie sich doch oft in höherem Maße als andere Menschen Infektionsrisiken aus. Die Prekarität dieser Situation ergibt sich daraus, dass nicht die individuelle Lebenssituation der als systemrelevant erachteten Personen, sondern ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Systems im Vordergrund steht. Dabei ist das Spektrum der als systemrelevant bezeichneten Berufe heterogen und geht weit über die häufig genannten Berufsgruppen hinaus. Einem Teil dieser, wie etwa LKW-Fahrer*innen, droht aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Beschränkungen der Arbeitsplatzverlust. Andere, wie etwa Putzkräfte, bleiben auch in der Coronazeit weitgehend unsichtbar. Mehr noch, der Begriff der Systemrelevanz verschleiert die Unterschiede in Status, Gehalt und psychischer bzw. physischer Belastung zwischen den einzelnen Berufsgruppen. Allen gemein ist aber ihre grundlegende Arbeitsbelastung, die weder eine privilegierte noch eine prekäre Entschleunigung, sondern vielmehr eine Beschleunigung mit sich bringt.

Genauso unterschiedlich wie die gesellschaftlichen Dynamiken in der Krise sind deren Folgen in den verschiedenen Teilen der Bevölkerung. Je nach individueller Lebenssituation ergeben sich daraus unterschiedliche und teils widersprüchliche Bedürfnisse. Armin Nassehi hat dies für den Fall der Entschleunigung offengelegt. Die jeweiligen Bedürfnisse sind nicht per se mehr oder weniger legitim, sondern müssen miteinander verhandelt werden. Wenn die aktuelle COVID-19-Pandemie wie von dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer befürchtet „ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit“ ist, dann gilt es umso mehr, neu entstehende Marginalisierungen und Privilegien zu berücksichtigen. Dies verlangt jedoch nach einer Politisierung des Diskurses jenseits von romantisierter Entschleunigung, alarmistischen Demokratie-Untergangszenarien und systemrelevanter Alternativlosigkeit. Denn wo etwas als systemrelevant porträtiert wird, erscheint jeder Widerspruch geradezu fahrlässig. Diese Rhetorik entspricht dem Gedanken der Versicherheitlichung, wobei der Diskurs eng führt. Die Wahl besteht dann scheinbar nur noch zwischen der Befürwortung einer vorgeschlagenen Maßnahme oder der Gefährdung der Sicherheit der Bevölkerung. Eine abwägende, argumentbasierte Kompromissfindung wird unter diesen Umständen erschwert oder gar unmöglich gemacht. Jedoch wird gegenwärtig genau diese offene und plurale Debatte gebraucht. Denn nur die aktive Verhandlung möglichst vieler Perspektiven im politischen Diskurs ermöglicht das Erkennen (wachsender) Ungleichheiten als Voraussetzung für eine politische Bearbeitung der Krise. Dies bedarf eines lebhaften Diskurses, in Parlamenten, Medien und der Zivilgesellschaft – trotz und wegen der aktuellen Maßnahmen.

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1 (Tagesthemen vom 01. April)