International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Kinder als Gefahr oder in Gefahr? – Eine kritische Neubetrachtung, zwei Wellen später

von Dr. Anne Burkhardt

03.05.2021 · Am 12.05.2020 erschien auf dem BedenkZeiten-Blog des IZEW ein Beitrag mit dem Titel „Kinder als Gefahr oder in Gefahr?“, der sich kritisch mit möglichen Folgen der Corona-Maßnahmen auf kindliche Entwicklung und Werteverständnis auseinandersetzte. Seither ist fast ein Jahr vergangen. Manches hat sich geändert, vieles ist gleichgeblieben. Zeit für eine Neuevaluation, zwei Wellen später.

Gemessen an den Einschränkungen, die Kinder und Eltern während der ersten Welle hinnehmen mussten, waren jene in der zweiten Welle vergleichsweise moderat und altersgerecht: Spiel- und Bolzplätze sind offengeblieben; die Maske hat den ein oder anderen Schulbesuch ermöglicht; jüngere Kinder sind von geltenden Kontaktbeschränkungen ausgenommen; Notbetreuung konnte unbürokratisch beantragt werden und Eltern erhielten Sonderzahlungen für jedes Kind. Gleichwohl sind massiv Unterricht und Lernzeit ausgefallen, und immer größer werdende Lernrückstände scheinen nicht ohne weiteres aufholbar (siehe aktuelle Studie der OECD); die Schere zwischen bildungsfern und bildungsnah klafft bis zum Anschlag auseinander und auch die befürchteten (und durchaus absehbaren) Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf die physische und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind mittlerweile amtlich, wie Studien zu Übergewicht, Depressionen und Angststörungen belegen (z.B. COPSY-Längsschnittstudie). Alarmierend ist auch die im Vergleich zum Vorjahr um 30% gestiegene Notfallquote der Kinder- und Jugendpsychiatrien, welche ab dem vierten Quartal 2020 „so stark beansprucht [wurden] wie nie zuvor“ (tagesschau liveblog coronavirus vom 17.04.2021).

Das Wohl von Kindern und Jugendlichen ist nach einem Jahr Aufwachsen mit Corona zweifellos in Gefahr. Nicht ohne Grund plädieren Kinderärztliche Verbände für eine Öffnung der Schulen auch bei schwieriger Infektionslage und für eine Rücknahme bestimmter Einschränkungen, etwa beim Freizeit- und Vereinssport. Gleichwohl werden Kinder von politischen Entscheidungsträger*innen nach wie vor vorrangig als Gefahr bewertet, oder zumindest öffentlichkeitswirksam als solche in Szene gesetzt, etwa wenn es um die Legitimierung von Schul- und Kitaschließungen geht. Dann werden drastisch steigende Zahlen von Ausbrüchen in Bildungseinrichtungen ins Feld geführt (welche ohne die nur dort praktizierte Teststrategie meist unentdeckt blieben), oder es wird emotionalisierend auf die Möglichkeit schwerer Verläufe bei Jugendlichen hingewiesen (z.B. heute journal vom 28.03.2021). Gruppenbezogene Statistiken zum Infektionsgeschehen sucht man in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – etwa bei Großbetrieben, Kirchen oder im Profisport – hingegen vergeblich. Dort gelten auch nicht dieselben anhaltenden Lockdowns. Corona-Infektionen, die in diesen privilegierten Bereichen stattfinden, werden meist im Stil nüchterner Einzelmeldungen präsentiert („Corona-Fall bei Schalke“; „15 Infektionen nach Gottesdienst“) – Wo eine Lobby, da ein Weg. Eine ausgewogene Berichterstattung müsste ebenso mit den Meldungen zu Schulen verfahren, oder gleichermaßen pathetisch über tragische Gottesdienstbesuche oder folgenreiche Mittagspausen bei Daimler berichten.

Sicherlich ist es für Politik und Medien nicht einfach, im Umgang mit der Pandemie allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen gerecht zu werden. Dennoch erscheinen bestimmte Ungleichbehandlungen auf die Dauer frappierend. Wie kann es sein, dass Friseure, Baumärkte und Zoos inzidenzabhängig öffnen und ein Massentourismus nach Mallorca ermöglicht wird, während Kinder und Jugendliche im wahrsten Sinn des Wortes „in die Röhre schauen“? Wie ist es zu erklären, dass an Schulen und Kitas Testpflicht besteht, während Beschäftigte in Fertigungshallen und Großraumbüros vielerorts mit Empfehlungen und freiwilligen Selbstverpflichtungen davonkommen? Und wenn die Schulen doch so gefährliche Orte sind: Warum wurde nicht früher an Impfstoffen für Kinder geforscht? Oder zumindest deren Eltern als engste Kontaktpersonen der kindlichen „Gefährder*innen“ mit höherer Priorität geimpft?

Von Gerechtigkeitsfragen wie diesen sind freilich nicht allein Kinder und Jugendliche, sondern viele andere lobbyschwache Bereiche betroffen (Stichwort: Kultur). Hinsichtlich der Kinder erscheinen jene jedoch besonders schwerwiegend, da sie in unserem demokratischen System keine Stimme und keine direkte Vertretung haben. Verschärft wird ihre nachteilige Verhandlungslage dadurch, dass sich Bund und Länder einseitig von Expert*innen aus Virologie und Wirtschaft beraten lassen. Kinderrechtler*innen kommen in diesen Beratungen selten zu Wort, ebenso wie die Betroffenen selbst, welche mit tränenreichen, aber folgenlosen Bürger*innendialogen mit der Kanzlerin abgespeist werden. Dies ist in einer Demokratie nicht hinnehmbar. Schade nur, dass die „Querdenker“ durch ihre haarsträubenden Ansichten und Aktionen dem teils berechtigten Protest an der Regierungsarbeit eine wichtige Plattform – den öffentlichen Raum – genommen haben.

Wie ein Tübinger Schulleiter treffend auf den Punkt bringt, hat sich der Begriff „auf Sicht fahren" in der Pandemie zu einer festen Redewendung etabliert. Gemeint ist eine genaue Beobachtung der Situation und daraus abgeleitetes Verhalten. In einer Mail an die Elternschaft beschreibt er das Sichtfeld der Schule wie folgt: „Es scheint, als würde die politische Sichtweise sich zunehmend von unserer pädagogischen Sichtweise entfernen. Wir nehmen wahr, dass durch die […] andauernde soziale Isolation bei vielen Schüler*innen auch der beste Fernunterricht nicht mehr hinreichend motiviert […]. Auf Sicht fahren bedeutet deshalb für uns, den Wunsch zu äußern, alle Jahrgangsstufen in Präsenz unterrichten zu dürfen. […] Was unsere Schüler*innen sehen, ist, dass das Leben unter bestimmten Maßgaben in vielen Bereichen wieder möglich ist, aber der Zugang zu ihrer Schule nicht. Wir bitten deshalb die politischen Entscheidungsträger, auch unsere Sichtweise in ihre Entscheidungen mit einzubeziehen“. Aus Sicht der Tübinger Schulen ließe sich ein fairer Zugang zu Bildung in allen Jahrgangsstufen durch Wechselunterricht, Tests und Hygieneauflagen bewerkstelligen. Diese Ansicht teilt die Initiative „Eltern stehen auf für die Bildung“, die sich mit Petitionen und Emailaktionen an die Politik wendet. Bleibt zu hoffen, dass ihr Aufruf Gehör findet. Vielleicht surfen wir damit auf weite Sicht sogar besser durch die dritte Welle als immerzu nur durchs Netz. Einen Versuch ist es wert.

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