International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Klimaanpassung gut gestalten

von Simon Meisch

13.06.2023 · Der Klimawandel findet statt und Gesellschaften beginnen, sich anzupassen. Die Aufgabe besteht darin, diese Anpassung gut zu gestalten. Technische Lösungen allein reichen nicht, es braucht auch neue Formen des Miteinanders. Am Beispiel der Stadt Reutlingen beschäftigte sich das Projekt »Changing Water Cultures« (CANALS) mit den Herausforderungen und Potenzialen dieser Aufgabe.

Seit einigen Jahren sind die Auswirkungen des Klimawandels zunehmend auch in Deutschland spürbar. So treten Wetterphänomene, die bisher als selten galten, häufiger und intensiver auf. Das gilt auch und gerade für Reutlingen. Durch seine geografische Lage ist die Stadt besonders gefährdet (a): Gewitterzellen ziehen häufig vom Schwarzwald her am Albtrauf entlang, treffen auf das Stadtgebiet als eine Wärmeinsel und entladen sich dort.

Darauf angesprochen berichten Menschen in Reutlingen lebhaft ihre Erlebnisse mit Extremwettereignissen, wie dem verheerenden Hagelsturm von 2013 (b) oder dem Starkregenereignis im Juni 2021 (siehe Foto). Viele Menschen empfinden die Häufigkeit, mit der solche Wettererscheinungen auftreten, als immer besorgniserregender.

Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich das Projekt »Changing Water Cultures« (CANALS) (c) mit den Fragen: Wie erleben Menschen in Reutlingen den Klimawandel? Wie kann sich die Reutlinger Bürgerschaft gemeinsam auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereiten? Wie können geeignete Klimaanpassungsmaßnahmen Betroffene besser erreichen?

Durchgeführt wurde das Projekt von Simon Meisch im Rahmen einer transdisziplinären Kooperation des IZEW mit der Universität Bergen (Norwegen) (d) sowie der Reutlinger Task-Force Klima und Umwelt (e) und der Stadtentwässerung Reutlingen (SER) (f). »Transdisziplinär« bedeutet, dass politische, zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteur*innen in den Forschungsprozess einbezogen wurden und diesen mitgestalten konnten. CANALS bestand aus zwei Phasen. In der ersten führte Simon Meisch Interviews mit 43 Personen aus der Reutlinger Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Ziel war es, einen Eindruck davon zu erhalten, was in Reutlingen bereits passiert. In der zweiten Phase sollte in Workshops hilfreiches Handlungswissen für Reutlingen mit zufällig ausgewählten betroffenen Bürger*innen geschaffen werden.

CANALS widmete sich der Anpassung an den Klimawandel durch die ›Wasserbrille‹. Denn künftig wird es durch den Klimawandel vermehrt zum einen in kurzen Zeiten sehr viel Wasser geben (Starkregen) mit damit verbundenem kleinräumig wirkendem zu viel Wasser (Hochwasser) oder aber zum anderen auch zu wenig Wasser (Trockenheit und Dürren) – alles mit erheblichen Auswirkungen auf das öffentliche Leben in Siedlungsbereichen.

Aus vielen Interviews ging hervor, dass angesichts der Klimaänderungen ein Weiter-So als nicht mehr möglich beurteilt wird. Vielmehr wurde der Bedarf gesehen, dass sich die Reutlinger Bürgerschaft expliziter als bisher darüber verständigt, wie sie mit den Folgen des Klimawandels umgehen will, welche Unterstützung sie dabei von städtischen Einrichtungen erwarten darf und wo sie selbst aktiv werden muss und mit welchen Mitteln. Diese Gemeinschaftsaufgabe gilt es vor dem Hintergrund weiterer globaler Herausforderungen zu bearbeiten: Dazu gehören weiterhin und verstärkt Anstrengungen zum Klimaschutz wie auch die Bewältigung der Folgen des Krieges gegen die Ukraine (Stichwort: Energiesicherheit) oder des demografischen Wandels (Stichwort: Fachkräftemangel).

In den Interviews waren vier Aufgaben für Reutlingen sichtbar: (1) eine gute Anpassung an den Klimawandel gestalten, (2) neue Routinen und Netzwerke von Stadt und Zivilgesellschaft etablieren, (3) zivilgesellschaftliches Engagement aufbauen und stärken und (4) passende Wissensformen schaffen und vermitteln. Sie werden von der Einsicht getragen, dass der Klimawandel bereits stattfindet und Reutlingen dabei ist, sich anzupassen. Die Herausforderung besteht darin, den Prozess so zu gestalten, dass er auf eine sozial verträgliche Weise stattfindet. Dazu bedarf es neuer Kooperationen zwischen der Reutlinger Bürgerschaft und der Stadt sowie der Schaffung des Wissens, das es braucht, dass diese Klimaanpassung gut gelingen kann.

Die Beobachtungen aus den Interviews dienten in der zweiten Projektphase als Ausgangspunkt für Diskussionen in den Workshops, die gemeinsam mit Daniel Oppold (g), einem Experten für partizipative Verfahren, geplant und im Frühjahr 2023 in Reutlingen durchgeführt wurden. Daran teilgenommen haben etwa 30 zufällig aus dem Melderegister ausgewählte Reutlinger*innen sowie Fachleute für Klimawandelanpassung aus der Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Es galt zu verstehen, wie die Bürger*innen die bisherigen Extremwetter erlebten, was ihnen in solchen Momenten half und was sie sich gewünscht hätten. In den beiden ersten Workshops erarbeiteten die Bürger*innen Empfehlungen, die in einem dritten Workshop von den Fachleuten aufgegriffen und hinsichtlich einer möglichen Umsetzung diskutiert wurden. Die Ergebnisse von CANALS wurden im April 2023 der städtischen Öffentlichkeit vorgestellt.

Fokus der Empfehlungen lag auf den Fragen: Wie kann die Reutlinger Zivilgesellschaft gemeinsam ins Tun kommen und dabei das relevante Wissen für die Anpassung an den Klimawandel selbst schaffen und austauschen? Dazu gilt es zielgruppenspezifische Kommunikationskanäle zu stärken – wie niederschwellige Informationen für Mieter*innen. Weitere Ideen waren eine regelmäßige Infoveranstaltung der SER mit dem Ziel, Reutlingen extremwetterfest zu machen, und ein durch die Task-Force Klima und Umwelt initiiertes Treffen mit dem Ziel, die Möglichkeiten auszuloten, einen Verein zu gründen, der die Reutlinger*innen bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützen und vorhandene Kompetenzen bündeln soll. Im Sinne des forschenden Lernens werden an der Universität Tübingen Lehrmaterialien für Reutlinger Schulen erarbeitet.

Was ist denn nun eine gute Anpassung an den Klimawandel? CANALS wollte untersuchen, wie Klimawandel durch eine ›Wasserbrille‹ wahrgenommen wird und was es braucht, damit Menschen gemeinsam ins Handeln kommen. Die Frage nach der guten Klimawandelanpassung stand somit zunächst nicht im Fokus, sondern rückte durch die Interviews dorthin. Dem Projekt ist es gelungen, ein Bewusstsein zu schaffen, dass die Frage nach der guten Klimawandelanpassung eine fortwährende Gemeinschaftsaufgabe (und eben nicht allein ein technisches Problem) darstellt und es dafür öffentliche Foren braucht, auf denen die Reutlinger*innen gemeinsam über eine gute Anpassung ins Gespräch kommen und miteinander lernen können, diese zu gestalten.

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(a) https://www.bund-neckar-alb.de/service/publikationen/detail/publication/auswirkungen-des-klimawandels-auf-das-kleinklima-der-stadt-reutlingen/

(b) https://www.youtube.com/watch?v=FvQAbU0xGOk

(c) https://uni-tuebingen.de/de/180937

(d) https://www.uib.no/en/svt/146488/changing-water-cultures-canals

(e)https://www.reutlingen.de/de/Rathaus/Stadtverwaltung/Staedtische-aemter/Amt?view=publish&item=level2&id=1004

(f) https://www.ser-reutlingen.de/de/Die-SER/ueber-uns/Bereich?view=publish&item=level1&id=1031

(g) https://www.rifs-potsdam.de/de/menschen/daniel-oppold

 

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