Die Rede des Jahres 2003
Eberhard Jüngel: Predigt über Genesis 16
Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat in diesem Jahr eine Predigt zur Rede des Jahres 2003 gewählt: Eberhard Jüngels Predigt über Genesis 16 in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin.
In einer Zeit des Niedergangs der geistlichen Rede zum Alltagsgerede über Gott und die Welt stellt Jüngels Predigt die Maßstäbe wieder her, die diese Gattung seit Augustinus zu einem besonders ausgezeichneten Ort rednerischer Wirksamkeit gemacht haben. Sie ist ein Gipfelpunkt der Predigtgeschichte in Bibelinterpretation und rhetorischer Darstellung zugleich und führt damit einer von aller Beredsamkeit verlassenen Pfarrer- und Pastorengeneration geradezu musterhaft die reichen Möglichkeiten substantieller und wirkungsvoller biblischer Verkündigung vor Augen und Ohren.
Schon Augustinus hatte gegen das auch heute immer wieder vernehmbare Vorurteil gekämpft, daß sich die göttliche Wahrheit ohne jeden rednerischen Beistand schon ihren Weg in die Herzen der Gemeinde bahnen werde. Sollen die Feinde der Wahrheit, fragte er ironisch, bei dem Versuch, ihre Zuhörer in den Irrtum zu treiben, deren Gemüt schrecken, betrüben, erfreuen, feurig ermahnen dürfen; die Verteidiger der Wahrheit aber sollen eine kalte und matte Rede voll Schläfrigkeit halten müssen? Die kalte und matte Rede ist zur Regel geworden, von der Kanzel hört man platte politische Meinungsreden oder feuilletonistische Plaudereien, die mit verkrampften Volten an religiöse Maximen zurückgebunden werden. Jüngel demonstriert dagegen, wie unerschöpflich und unersetzlich die biblischen Geschichten für die christliche Predigt sind, wenn man sie denn zu lesen und die in ihnen selber verschlossene Aktualität aufzufinden und für die Gemeinde zu öffnen versteht. Daß er sich dazu gerade ein schwieriges Exempel ausgesucht hat, macht des Meisters Ehre: Sara aber, die Frau Abrahams, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. Und Sara sagte zu Abraham: ‚Siehe doch: Jahwe hat mir Kinder versagt. So geh doch zu meiner Magd, vielleicht kann ich durch sie ein Kind bekommen!‘ Wie der Kanzelredner nun zwischen den Zeitaltern vermittelt, den kulturellen und historischen Hintergrund der biblischen Erzählung mit unserer Denk- und Lebensart, die alttestamentarische Sexualmoral mit der modernen konfrontierend, aus der so veraltet wirkenden Geschichte einen unveralteten, unabgegoltenen Kern herauspräpariert, das ist ein hermeneutischer und rhetorischer Geniestreich, dem wir die größte Verbreitung in und außerhalb der Kirchen wünschen.
Jury: Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer, Prof. Dr. Gert Ueding und Peter Weit.
Sprecher der Jury: Olaf Kramer