Seminar für Allgemeine Rhetorik

Die Rede des Jahres 2020

Angela Merkel: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“

Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen verleiht die Auszeichnung „Rede des Jahres“ 2020 an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. Sie erhält die Auszeichnung für ihre historische Fernsehansprache zur Coronapandemie vom 18. März 2020. Die Rede sei ein eindrucksvoller Appell an Verantwortung und Miteinander, verbinde die anschauliche Darstellung komplexer wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Empathie und politischer Umsicht, sagte die Jury. 

Mit der im Ersten und Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlten Ansprache stellt sich die Bundeskanzlerin einer denkbar schweren Aufgabe, gilt es doch, komplexe epidemiologische Modelle zu erklären und die Bevölkerung zu radikalen Verhaltensänderungen zu bewegen. Rhetorisch nutzt Merkel dafür alle Register: Die Rede ist anschaulich geschrieben und gut strukturiert, engagiert vorgetragen und sorgt durch Wiederholungen und Variationen zentraler Gedanken für Eindringlichkeit. Durch bemerkenswertes Empathievermögen gelingt es Merkel, für Verständnis und Verantwortung zu werben. Sie formuliert einen großartigen und überzeugenden Appell an Vernunft und Einsicht, an Gemeinsinn und Solidarität: „Wir werden als Gemeinschaft zeigen, dass wir einander nicht allein lassen.“

Als Leitmotiv zieht sich die Forderung nach Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft durch die Rede. So macht die Kanzlerin immer wieder deutlich, dass Corona-Verordnungen alleine nicht ausreichten, um die Pandemie einzudämmen: „Alle staatlichen Maßnahmen gingen ins Leere, wenn wir nicht das wirksamste Mittel gegen die zu schnelle Ausbreitung des Virus einsetzen würden: Und das sind wir selbst.“ Immer wieder spricht Merkel einzelne Bevölkerungsgruppen direkt an und erzeugt so Nähe, nutzt ein breites Repertoire rhetorischer Stilmittel, um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen und deutlich zu machen, wie ernst die Lage ist. Überzeugend bringt sie eigene Erfahrungen ein, nutzt ihre eigene Biografie und Autorität, um als Rednerin für ihre Sache einzustehen. „Für jemandem wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen.“ 

Auch im Kontext der Reden anderer europäischer Regierungschefs sticht Merkels Rede heraus: Während Emmanuel Macron in seiner ersten Fernsehansprache zu autoritären Ansagen und einer ausladenden Kriegsmetaphorik tendiert, ein Boris Johnson die Gefahren eher herunterspielt, verwendet Kanzlerin Merkel eine sachlich informierende Sprache und eine wissenschaftlich fundierte Argumentation. Dabei gelingt ihr der Spagat zwischen Vernunft und Einfühlungsvermögen in einer vorbildlichen Art und Weise, die auch international große Anerkennung gefunden hat. 

Mit großem rhetorischem Können verdeutlicht Merkel die Allgegenwärtigkeit des Virus und die damit verbundenen Gefahren und erreicht dabei eine starke emotionale Wirkung, indem sie die Konsequenzen der Pandemie deutlich macht: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt.“

Kanzlerin Merkel demonstriert eindrucksvoll, wozu öffentliche Rede fähig ist, wie Vernunft mit Hilfe von Rhetorik handlungsmächtig werden kann und auf welche Weise gute Rhetorik Gemeinsinn und Zusammenhalt befördern kann. Merkel gelingt damit eine historische Rede, die für die erfolgreiche Bewältigung der ersten Corona-Welle von zentraler Bedeutung ist. Wie kaum eine andere Rede in den vergangenen Jahren dürfte die Fernsehansprache die deutsche Bevölkerung unmittelbar beeinflusst haben. 

Dass Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme immer wieder neu beschworen werden müssen, zeigen freilich die aktuellen Entwicklungen: Nachdem die Politik der zweiten Corona-Welle zunächst nicht mit der nötigen Entschiedenheit entgegentrat, ist es in dieser Situation wiederum Merkel, die sich mit ihrer ungewöhnlich emotionalen Rede zum Bundeshaushalt Anfang Dezember für Verantwortung und Miteinander stark macht, mit großem persönlichen Engagement dafür kämpft, dass wir als Gesellschaft der Bedrohung durch die Corona-Pandemie konsequent entgegentreten.

Jury: Lukas Beck, Nico Bosler, Dr. Simon Drescher, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Clara Rohloff, Viktorija Romascenko, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier

Ansprechpersonen: Clara Rohloff & Lukas Beck
Telefon +49 70 71/ 29 – 74257
clara.rohloff@uni-tuebingen.de / lukas-nicolas.beck@uni-tuebingen.de

Text der Rede   Video der Rede