International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

„On the internet nobody knows you are a [women]”? Weibliche Identitäten in der Internetkommunikation zwischen Befreiung, Repression und Sexualisierung

von Jessica Heesen

18.06.2024 · Mitte der 1990er Jahre öffnete sich das Internet mit dem World Wide Web (WWW) für die Nutzung durch die allgemeine Öffentlichkeit. In dieser Zeit kursierte eine Zeichnung des amerikanischen Cartoonisten Peter Steiner (1993), die zwei Hunde vor dem Computer zeigt, die sich freuen, im Internet unterwegs zu sein. Der eine Hund erklärt darauf dem anderen „On the Internet nobody knows you are a dog“. Online-Kommunikation wurde in ihren  Anfängen insbesondere von libertärer Seite häufig mit einem Freiheitsversprechen in Verbindung gebracht, das vor allem aus den Möglichkeiten zu anonymer Kommunikation und ihrer Unabhängigkeit vom körperlichen Erscheinungsbild abgeleitet wurde. Dieser Zugang entspricht zugleich den Erwartungen an eine freie und gerechte Kommunikation und betraf damit Chancen auf eine Gleichberechtigung marginalisierter Gruppen und verbesserte Teilhabemöglichkeiten von Frauen.

Der Vorstellung nach war Internetkommunikation in diesem Sinne losgelöst von der leiblichen Existenz der Nutzer*innen („disembodiment“) und demzufolge nicht mit Vorurteilen und strukturellen Benachteiligungen in Verbindung zu bringen. Individuelle Freiheit im Internet wird noch bis heute von vielen Nutzenden als Freiheit von körperlichen Erscheinungsformen sowie generell lebensweltlichen und institutionellen Beschränkungen interpretiert. Dazu gehört die Freiheit von nationalstaatlichen Grenzen ebenso wie die Freiheit zur Erschaffung anonymer und/oder fiktionaler Identitäten (Barlow 1996/Heesen 2016).

Nun, mehr als 30 Jahre nachdem das Internet für die Allgemeinheit nutzbar wurde, zeigt sich, dass diese Form des Freiheitsversprechens gescheitert ist oder zumindest als ambivalent bewertet werden muss. Das Scheitern der Neuerfindung von gleichberechtigten und vorurteilsfreien Kommunikationsformen lässt sich durch zahlreiche Studien und Erfahrungsberichte empirisch beschreiben (z. B. bei Abendschön, S./García-Albacete, G., 2021; Das NETTZ 2024). Insbesondere Hate Speech ist in Form von sexualisierter Gewalt in den unterschiedlichsten Kommunikationszusammenhängen vorzufinden und illustriert, dass die vermeintliche Meinungsfreiheit des einen häufig mit dem Ausschluss des oder der anderen von öffentlicher Online-Kommunikation verbunden ist. Aber auch auf konzeptioneller Ebene stand die Erwartung auf eine gerechtere Kommunikation von Beginn an auf wackligen Füßen. Der proklamierte Ansatz, Identitäten durch technische Innovationen losgelöst von allen Kontexten zu betrachten, bezieht sich auf ein Menschenbild, das in vielen zeitgenössischen philosophischen Ansätzen kritisiert wird (etwa durch die Kritische Theorie, feministische Philosophie, den Neoaristotelismus, Poststrukturalismus oder Neuen Materialismus). Im Vordergrund dieser Kritik steht die Missachtung der Wechselverhältnisse und Interaktionen, die notwendig zum Aufbau von Identitäten beitragen. Stattdessen hängen Konzepte, die Freiheiten als Unabhängigkeit von Kontexten beschreiben, am Idealbild eines machtvollen, autonomen Subjekts, das sich von seiner konkreten Verortung in sozialen Beziehungen, kulturellen Normvorstellungen, Körper und Natur frei spricht. Und abgesehen von diesen Abhängigkeiten ist natürlich auch die technische Infrastruktur des Internets (Energieversorgung, Kabel, Endgeräte usw.) ein materialer Kontext, der Internetkommunikation immer rahmt und ermöglicht und die Rede von der Kommunikation ohne Grenzen einmal mehr brüchig werden lässt.

Auch wenn Kontexte in der Internetkommunikation vordergründig nicht sichtbar sind, so werden sie doch immer wieder in die Kommunikation und ihre technischen Infrastrukturen und Medien eingeschrieben. Sei es durch die Dominanz männlicher Akteure in Blogs und Meinungschats, die unmittelbare Diskriminierung von Frauen durch Hatespeech oder in neuester Zeit durch KI-Dienste, die Frauen in sexualisierten Darstellungen herabwürdigen. Beispiele hierfür sind Anwendungen wie DeepNude oder die Avatar App Lensa (Heikkilä 2022) und andere Formen der digitalen sexuellen Gewalt gegen Frauen wie Stalking und Doxing (UN Women 2022).

Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass die Unkenntlichkeit von Körpern insgesamt nicht zu einer diskriminierungsfreien Kommunikation geführt hat (auch wenn einzelne Personen nach wie vor vom Spiel mit oder dem Verbergen von Identitäten profitieren). Aber fast noch bemerkenswerter ist der Befund, dass offenbar auch die Körperlosigkeit der Kommunikation keinen Bestand hat. Die stetige Zunahme von Visual Content, also Bildern, Videos, Icons sowie Avataren als künstliche Repräsentationen von Körpern in der Internetkommunikation (und in Metaversen) zeigen das anhaltende Bedürfnis des Menschen, sich nicht nur anhand von gesprochener und geschriebener Sprache zu orientieren und zu verständigen. Stattdessen gewinnen Abbilder und Simulationen von „Körpersprache“ mehr und mehr gegenüber der Schriftsprache an Bedeutung.

Diese Rückgewinnung von Körpern in der digitalen Kommunikation zeigt sich jedoch erneut ambivalent: Körperästhetiken werden insbesondere in den Sozialen Medien (und teils von Frauen selbstgewählt) mit Filtern und Bildverarbeitungsprogrammen technisch optimiert. Sie werden durch Software mit Bias patriarchal zugerichtet / sexistisch aufbereitet (Nicoletti/Bass 2023) oder neu und fiktiv technisch erzeugt – insbesondere beim Gaming, aber auch bei der Nutzung von KI-Companions für intime oder freundschaftliche Kommunikation. Im geschäftlichen Bereich findet durch Avatare eine Nutzung von Ersatzkörpern statt, die z. B. als virtuelle Influencer die entsprechenden Produkte kostengünstiger bewerben oder die Bankberatung „menschlicher“ gestalten.

Digitale Medien fungieren hier als Raum der Kommerzialisierung körperlicher Repräsentationen und der mit ihnen verbundenen sozialen Interaktion – das Internet ist jedoch auch ein Medium der Verbündung und des Widerstands gegen repressive Strukturen und Gewalt gegen echte Körper wie unter anderem die Kommunikation unter dem Hashtag MeToo und ihre Wirkung auf den öffentlichen Diskurs gezeigt hat.

Was bedeutet dies nun alles für die Freiheit von Körpern in der digitalen Kommunikation? Fragen von Freiheit und Gerechtigkeit sind immer auch Fragen von Gestaltungsfreiheit, Sichtbarkeit und Repräsentanz. Für digitale Technologien gilt, dass Individuen oder (diverse) Gruppen nicht nur hinter dem vermeintlichen Schutz unkenntlicher oder künstlich erzeugter Identitäten frei sein möchten von Grenzen und Diskriminierungen. Menschen sollten im digitalen Raum sichtbar werden können – aber zu ihren eigenen Konditionen. Judith Butlers Buchtitel von 1993, Bodies that matter, kann vor diesem Hintergrund als Ausgangspunkt für eine Bestimmung des Körperlichen im digitalen Raum dienen. Dabei geht es nicht um eine Rückgewinnung von vermeintlich „natürlichen“ Körpern in der digitalen Kommunikation. Stattdessen stehen Fragen einer selbstbestimmten und vielfältigen Präsentation von Körpern im Vordergrund, die mediale Inszenierung nicht als Zurichtung an technischen und sozialen Normen versteht, sondern als Chance zur Rückereroberung von Körperbildern, die an selbstbestimmte weibliche und diverse Identitäten gebunden sind. Ob diese sich an „realen“ oder „natürlichen“ Bedeutungskontexten orientieren oder sich selbst aber (fiktional) neu erfinden, ist ihnen selbst überlassen. Digitale Anwendungen sind hierfür eine Hilfe, ihr Design aber sollte eben nicht durch Voreinstellungen, die Körperbilder stereotyp (patriarchal) verzerren, geprägt werden, sondern Freiheit als selbstbestimmte Wahl in Kontexten konzipieren und verwirklichen. Der physische Köper kann in der Internetkommunikation sichtbar werden, er muss es aber nicht. Menschliche Freiheit liegt in der stetigen Neuerschaffung dessen, was als natürlich, technisch oder künstlich betrachtet wird. Technologien sind Ausdruck und Manifestation dieser Wechselbeziehung von Technik und Kultur: „Tatsächlich aber ist fast jedes kulturelle Handeln des Menschen ein Eingreifen in ‚Natur‘. […] Menschliches Eingreifen hat durch die Geschichte hindurch immer zur Korrektur und Veränderung dessen geführt, was als ‚natürlich‘ verstanden wird“ (Ammicht Quinn 2008, S. 2).

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Literatur:

Abendschön, Simone/García-Albacete, Gema (2021): It’s a man‘s (online) world. Personality traits and the gender gap in online political discussion. In: Information, Communication & Society. 24(14), S. 2054. doi:10.1080/1369118X.2021.1962944.

Ammicht Quinn, Regina (2008): Die Natur und das Widernatürliche. In: Schlangenbrut. 26(2), S. 5-8.

Barlow, John Perry (1996): A Declaration of the Independence of Cyberspace. www.eff.org/cyberspace-independence (Zugriff: 31.05.2024).

Das NETTZ, Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur, HateAid und Neue deutsche Medienmacher*innen als Teil des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz (Hg.) (2024): Lauter Hass – leiser Rückzug. Wie Hass im Netz den demokratischen Diskurs bedroht. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. https://kompetenznetzwerk-hass-imnetz.de/download_lauterhass.php (Zugriff: 16.05.2024).

Heesen, Jessica (2016): Freiheit. In: Heesen, Jessica (Hg.): Handbuch Medien- und Informationsethik. Metzler: Stuttgart, S. 52-58.

Heikkilä, Melissa (2022): How it feels to be sexually objectified by an AI. In: MIT Technology Review. December 13, 2022. https://www.technologyreview.com/2022/12/13/1064810/how-it-feels-to-be-sexually-objectified-by-an-ai/ (Zugriff: 16.05.2024).

Nicoletti, Leonardo/Bass, Dina (2023): Humans are biased. Generative AI is even worse. June 9, 2023. https://www.bloomberg.com/graphics/2023-generative-ai-bias/? (Zugriff: 16.05.2024).

UN Women (2022): FAQs: Trolling, stalking, doxing and other forms of violence against women in the digital age. https://www.unwomen.org/en/what-we-do/ending-violence-against-women/faqs/tech-facilitated-gender-based-violence (Zugriff: 16.05.2024).

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