International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Nachhaltige Entwicklung und Wissenschaftsethik - Aktuelle Herausforderungen

Klima- und Biodiversitätskrise, antidemokratische populistische Strömungen und die Corona-Pandemie haben den Ruf nach einer Wissenschaft erneuert, die Verantwortung übernimmt und dabei ausdrücklich zu einer Nachhaltigen Entwicklung (NE) beiträgt. Doch wenn Wissenschaft sich zunehmend Nachhaltigkeitsfragen und deren Lösungen zuwendet – müssen sich dann auch wissenschaftsethische Standards verändern? Und vice versa: Welche Art von wissenschaftsethischen Perspektiven haben NE-orientierte (Standard)Forschung bis hin zu transformationsorientierter NE-Wissenschaft bisher vielleicht zu wenig berücksichtigt? Solchen Fragen war das Symposium „Sustainable Development and Ethics of Science – Mutual Impulses and Challenges“ am 2.-4. November 2022 gewidmet, finanziert von der VolkswagenStiftung, Leitung Thomas Potthast und Cordula Brand, unter Mitarbeit von Wiebke Zimmermann. 25 Teilnehmer*innen aus Ethik und Wissenschaftstheorie, Erziehungs- und Politikwissenschaft sowie der transformativen Nachhaltigkeitsforschung diskutierten gemeinsam.

Den Rahmen bildeten Impulsvorträge der Organisator*innen sowie von Prof. Dr. Margit Sutrop (Tartu, Research Ethics and the Science-Policy Interface), Prof. Dr. Konrad Ott (Kiel, Sustainable Research and its Ethical Implications) und Dr. Antonietta di Giulio (Basel, Inter- and Transdisciplinary Sustainable Research – Epistemological Questions).

Einen Schwerpunkt bildete die Frage der Operationalisierung des Umgangs mit Transformationsbarrieren in Organisationen des Wissenschaftsbetriebs, insbesondere Universitäten. Ausgangspunkt war die Diagnose, dass zwar einiges an Forschung zur NE formaler Organisations-Strukturen betrieben wird, dass aber sog. „informelle Strukturen“ noch wenig in den Blick genommen werden, beispielsweise Kommunikationsprozesse, Überzeugungen (bewusste wie unbewusste) oder implizite Wissensstrukturen. Zur Frage, welche Transformationsbarrieren identifiziert werden können, gab es mehrere Antworten: a) sog. feste ‚Glaubenssätze‘, z.B. „Wissenschaftsfreiheit und Orientierung an NE passen nicht zusammen”; b) ein auch, aber nicht nur finanziell motiviertes Wachstumsparadigma, so die Überzeugung, dass mehr Output (Paper, Projekte) gleich mehr Erfolg  bedeutet; c) die das institutionelle ebenso wie das individuelle Selbstverständnis betreffende Frage, ob Wissenschaft als Berufung und nicht nur als Beruf verstanden wird bzw. werden sollte und was dies für NE bedeutet. Schließlich wurde intensiv debattiert, nach welche und wessen Werte eine Transformation von Universitäten erfolgen sollte und wer die Entscheidungshoheit über die entsprechenden Governance-Prozesse innehaben sollte.

Der zweite Schwerpunkt betraf ethisch-epistemische Fragen: Welche Gruppen sollen in bestimmte Forschungskontexte einbezogen werden? Wer gilt warum als Expert*in und wer bestimmt die Kriterien, um Expertise wie auszuweisen? Dürfen oder müssen bestimmte Positionen/Wissensbestände vom wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden und wenn ja, auf welcher Basis? All dies wird durch die partizipativ und transdisziplinär orientierten Forschungsansätze im Rahmen einer NE in der Tat noch verstärkt herausgefordert. Ethisch zentral zu diskutieren ist, was es bedeutet, dass NE ausdrücklich (Generationen-) Gerechtigkeitsnormen in die Forschungspraxis einbringt und welche Implikationen dies, ernst genommen, für die Wahl von Themen und Methoden hat. Zudem stellen sich Anschlussfragen nach einer normativen Erkenntnistheorie. Dürfen NE-Wissenschaften Werturteile treffen? Sie müssen es, und hier können die methodischen Erfahrungen der anwendungsbezogenen Ethik sehr hilfreich sein.

Abschließend sei betont, dass es nicht erst das Thema NE ist, das organisationale, Macht-, Zielsetzungs-, normative und evaluative ‚Definitions‘-Fragen aufwirft; gleichwohl muss gerade mit Bezug auf eine NE-Transformation im Detail systematisch ausgearbeitet werden, wie ein angemessener Umgang damit entwickelt werden kann.  Im Nachgang des Symposiums wird in Kürze ein call-for-papers für ein special issue einer NE-affinen Fachzeitschrift eröffnet.

 

Cordula Brand, Thomas Potthast, Wiebke Zimmermann