Bahnhofsviertel gelten oft als unsicher und schmuddelig. Städten und Gemeinden, die das ändern wollen, steht seit kurzem ein umfangreicher Katalog aus Maßnahmen und Planungshilfen zur Verfügung, um diese Areale sicherer und attraktiver zu machen. Die Resonanz auf diesen kommunalen „Werkzeugkasten“ ist ausgesprochen positiv. Geleitet hat das Projekt die Tübinger Kriminologin Rita Haverkamp.
Großstädtische Bahnhofsviertel flößen vielen Menschen Unbehagen ein. Sie sind Knotenpunkte der Mobilität, geprägt von Eile und Anonymität, wo sich auf engem Raum eine Vielzahl unterschiedlicher Menschen begegnen: Stärker als anderswo prallen hier tagtäglich Gegensätze zwischen arm und reich, jung und alt oder auch krank und gesund aufeinander. Zugleich sind Bahnhofsgegenden Anziehungspunkte für Kriminelle, die hier unerkannt in der Menge untertauchen und schnell an- und abreisen können.
Was Pendler, Touristen, Mitglieder sozialer Randgruppen, Anwohner und Gewerbetreibende bei aller Unterschiedlichkeit eint, ist der Wunsch nach einem sicheren Aufenthalt im Bahnhofsgebiet. Allerdings – Sicherheitswahrnehmungen und -bedürfnisse unterscheiden sich stark: Was für die einen noch buntes Leben ist, empfinden die anderen schon als bedrohlich. Starke Polizeipräsenz stärkt bei manchen das Sicherheitsgefühl, während andere darin das Alarmzeichen eines kriminellen Brennpunkts sehen. Um Kommunen und Polizei angesichts dieser Gemengelage bei ihren Planungen zu unterstützen, gibt es seit kurzem den „Werkzeugkasten – Sicherheit im Bahnhofsviertel (SiBa)“ (www.siba-projekt.de). Auf knapp 300 Seiten sind hier vielfältige Maßnahmen, Strategien, Denkanstöße und Praxisbeispiele nebst Checklisten und systematischen Planungshilfen zusammengestellt, aus denen sich die Verantwortlichen von Kommunen und Polizei das heraussuchen können, was zu ihren Zielen und ihrer Situation vor Ort passt. Das Themenspektrum reicht von der Beleuchtung über Sauberkeit, Übersichtlichkeit und Sozialkontrolle bis zur Verhinderung von Straftaten, von Gentrifizierungsprozessen und dem fairen Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen bis zu Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung und Kampagnen zur Zivilcourage und Strategien der Konfliktbeilegung. Über 230 einzelne Präventivmaßnahmen sind im Werkzeugkasten aufgeführt – von „Abfallfahndung“ über „Kaugummiwand“ und „Wärmebus“ bis zur „Zwischennutzung leerstehender Gebäude und Flächen“.
Die Basis des Werkzeugkastens bilden systematische Befragungen, Beobachtungen, Begehungen und Experteninterviews in den Bahnhofsvierteln von Düsseldorf, Leipzig und München. Diese Städte wurden für die Studie ausgewählt, weil sich ihre Bahnhofsgebiete – trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen – alle in einem grundlegenden Wandel befinden.
Entwickelt wurde der SiBa-Werkzeugkasten zwischen August 2017 und Dezember 2020 in einem vom Bundesforschungsministerium (BMBF) im Rahmen des Programms „Forschung für zivile Sicherheit“ geförderten Verbundprojekt unter der Leitung von Rita Haverkamp, die die Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen innehat. Partner sind die Bergische Universität Wuppertal sowie die drei Untersuchungsstädte Düsseldorf, Leipzig und München. Den Forschungsverbund komplettieren als Multiplikatoren die Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK), das Deutsch-Europäische Forum für Urbane Sicherheit e.V. (DEFUS) und der Deutsche Präventionstag (DPT).
Da die Covid-19-Pandemie die Situation in den Bahnhofsgebieten massiv veränderte, hat das SiBa-Team den Werkzeugkasten zwischenzeitlich noch um eine Broschüre ergänzt. In deren Mittelpunkt stehen Hilfsmaßnahmen für Obdachlose, deren Lebenssituation sich durch die Schließung von Sozialeinrichtungen im Zeichen von Corona verschlechtert hatte.
„Die Rückmeldungen, die wir aus den Städten und Gemeinden erhalten, sind ermutigend und zeigen, dass unser Werkzeugkasten eine Lücke füllt“, sagt Rita Haverkamp. Dafür spricht auch, dass es bereits ein neues Projekt gibt, in das die Sicherheitslösungen einfließen werden. Bis November 2022 werden die Professorin und ihr Team gemeinsam mit der Stadt Ludwigsburg im Rahmen der Fördermaßnahme „SifoLIFE – Demonstration innovativer, vernetzter Sicherheitslösungen“ ein Sicherheitskonzept für das dortige Bahnhofsviertel entwickeln. Das Projekt „Sicherheit im Ludwigsburger Bahnhofsviertel“ (SiLBer) wird ebenfalls vom BMBF gefördert. Dabei soll das von der Stadt Ludwigsburg erworbene Franck-Areal in die Bahnhofsumgebung integriert und diese als ein barrierefreies Viertel gestaltet werden. „Die Bürger und Bürgerinnen sollen sich dort gern aufhalten, sich sicher fühlen und auch objektiv sicher sein. Ziel ist die Stärkung der Kriminalprävention, ein friedliches Miteinander aller Nutzendengruppen, die Einübung urbaner Kompetenz und das Lernen von Toleranz“, so Rita Haverkamp.
Weitere Informationen zu beiden Projekten unter www.sifo.de.
Wolfgang Krischke
Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement
Prof. Dr. Rita Haverkamp
Geschwister-Scholl-Platz · 72074 Tübingen
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