Menschliche Herzmuskelzellen zucken rhythmisch unter dem Mikroskop. Sie liegen wie ein 3D-Mini-Herz auf einem Chip, einem sogenannten Mikroelektrodenarray (MEA). Alle paar Sekunden ziehen sich die Herzmuskelzellen zusammen, werden kleiner, wieder größer. Alle gleichzeitig. Regelmäßig. Winzige Elektroden messen ihre Entladung.
Dabei möchte Dr. Udo Kraushaar sie ein wenig durcheinanderbringen, gibt Substanzen zu den Zellen und schaut, ob sie dann immer noch regelmäßig zucken. Oder ihren Rhythmus verlieren. Oder ganz aufhören zu pulsieren. Ein Bildschirm zeigt die Entladung der Zellen in Kurven. Wie ein EKG. Udo Kraushaar möchte die Herzzellen lieber jetzt durcheinanderbringen, als dass „irgendwann mal jemand vom Fahrrad fällt, weil er oder sie eine Kopfschmerztablette nicht verträgt“, sagt er. Das Beispiel ist nicht fiktiv: Kraushaar testet mögliche Nebenwirkungen von neuen Substanzen auf Organoide des menschlichen Herzens und vieler weiterer Organe und hilft, ungeeignete Kandidaten für ein neues Medikament auszusortieren.
Wenn ein Pharmaunternehmen ein neues Mittel entwickeln möchte, fängt es mit hundert- bis zweihunderttausend Substanzen an und reduziert systematisch die Zahl der Wirkstoffe auf die vielversprechendsten Kandidaten. Wenn noch ungefähr fünfzig bis hundert übrig sind, kommen Udo Kraushaar und sein Team ins Spiel. So ein Organoid sieht aus wie ein kleiner weißer Klumpen, immerhin so groß, dass er mit dem bloßen Auge auf dem Mikroelektroden-Chip unterm Mikroskop zu erkennen ist. Um die Zellen für die Entstehung von Herz-Organoiden zu erhalten, mussten zuvor einmalig per Biopsie einer oder einem Freiwilligen Zellen aus der Haut entnommen und auf dem Umweg über adulte Stammzellen zu Herzmuskeln weitergezüchtet werden. Die Zellen verhalten sich erwartungsgemäß: Sie ziehen sich zusammen und dehnen sich wieder aus. Wie ein Herz.
In dieser Phase der Medikamentenentwicklung sind üblicherweise bereits zwischen fünf und zehn Jahre vergangen. Erst wenn nur noch zwei bis fünf Wirkstoff-Kandidaten übrig sind, beginnt die klinische Phase, also der Test am Menschen selbst. „Wenn ein Pharmaunternehmen eine Substanz in die klinische Phase gibt und scheitert – dann sind eine Milliarde Euro futsch“, sagt Udo Kraushaar. Deshalb sortiert er vor. Auch Tierversuche finden vor der klinischen Phase statt. Die Experimente von Kraushaar jedoch sind näher an der Physiologie des Menschen und reduzieren die Notwendigkeit von Tierversuchen. Die genaue Messung der Entladung – die sogenannte „Potenzialmessung“ – kann Kraushaar nur vornehmen, weil die Zellen auf einem Chip mit Mikroelektroden liegen. Unter dem Mikroskop sind sie ungefähr so groß wie eine Zelle und gleichmäßig im Zentrum der Platine verteilt. Von dort führen 60 elektrisch leitende Bahnen in gleichmäßigen Strahlenmustern in ein größeres Viereck, dessen Seitenlinien sich aus kleinen viereckigen Kontakten zusammensetzen. Hier wird der Stromstoß aus der Zelle abgenommen und verstärkt.