Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2012: Leute

Pionier für die Erforschung der Geschichte der Psychoanalyse und der Briefe Sigmund Freuds

Zum Tod von Professor Dr. Gerhard Fichtner ein Nachruf von Albrecht Hirschmüller und Urban Wiesing

Gerhard Fichtner, der ehemalige Direktor des Tübinger medizinhistorischen Instituts, ist am 4. Januar 2012 wenige Monate vor seinem 80. Geburtstag verstorben.


Er studierte zunächst in Leipzig Theologie, später in Heidelberg, Freiburg, Basel, Zürich und Kiel Medizin. Nach kurzer chirurgischer Ausbildung fand er zur Geschichte der Medizin. Bei Walter von Brunn promovierte er in Tübingen über die Idee der Transplantation. Nach zwei Jahren in Freiburg erhielt er 1970 den Ruf auf den Lehrstuhl von Brunns.


Ein Schwerpunkt seiner Forschung war die Medizin in Tübingen, insbesondere Leonhard Fuchs und die Aufarbeitung sämtlicher medizinischer Promotionen in Tübingen aus fünf Jahrhunderten. Ein besonderes Interesse galt der Psychiatrie im 19. Jahrhundert und ihrem wohl berühmtesten Patienten, Friedrich Hölderlin. Durch seine Kontakte zur Familie Binswanger in Kreuzlingen gelang es, den Nachlass Ludwig Binswangers und das Archiv der Klinik Bellevue nach Tübingen zu holen. Den Briefwechsel Binswangers mit Freud hat Fichtner 1992 herausgegeben.


Fichtner war ein Pionier der EDV-Anwendung in den Geisteswissenschaften. Seine Datenbanken sind vielen Forschern heute eine unschätzbare Hilfe. Nicht zuletzt ihretwegen hat die Fachgesellschaft ihm 1995 für seine Verdienste die Sudhoff-Plakette verliehen.


Die Möglichkeiten der EDV nutzte Gerhard Fichtner auch in seinem wichtigsten Forschungsgebiet, der Geschichte der Psychoanalyse. Freuds Bibliothek konnte er virtuell rekonstruieren und alle Briefe Freuds in einer Konkordanz erfassen. Auch sämtliche Werke Freuds wurden von Fichtner vollständig elektronisch erfasst, lange bevor man solche Projekte mit Scannern durchführen konnte. Er hat diese Schätze stets großzügig zur Verfügung gestellt.

Fichtner wurde zu einem der besten Kenner von Freuds Briefen. In den letzten Jahren hat ihn die Edition der Brautbriefe von Sigmund Freud und Martha Bernays (mit Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller) am meisten beschäftigt. Erfreulicherweise konnte er das Erscheinen des ersten Bandes im vergangenen Jahr noch feiern.


Eine Quelle seiner Lebensfreude war ihm die Bildende Kunst. Früh hat er HAP Grieshabers Werk für sich entdeckt, hat den Künstler kennengelernt und mit Margot Fürst das große Grieshaber-Werkverzeichnis erstellt (1984, 1986).
Die letzten Jahre waren durch eine Erkrankung getrübt. Er hat der Krankheit mit be-wundernswerter Gelassenheit ins Auge gesehen. Am 4. Januar ist Gerhard Fichtner gestorben.

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