Uni-Tübingen

Das Virus bedroht alle UNGLEICH

Erfahrungen mit Corona im Mikrokosmos der Universität Tübingen

Das Virus bedroht uns alle gleich. Diesen Satz hört man seit über einem Jahr immer wieder. Doch stimmt er überhaupt? In Deutschland sind Nicht-Deutsche dreimal mehr von Arbeitslosigkeit betroffen als Deutsche. Frauen sind im Vergleich zu Männern überproportional oft von Einkommensverlusten betroffen. Und für die zehn reichsten Männer der Welt bedeutete die Pandemie hingegen gigantische Profite.

Das Virus bedroht also alle – aber eben ungleich. Es bedroht Menschen in ganz unterschiedlichen Ausmaßen und Dimensionen. Wissenschaftler*innen des Sonderforschungsbereichs 923 „Bedrohte Ordnungen“ wollen die verschiedenen Erfahrungen mit Corona von Menschen im Umfeld der Universität dokumentieren und sichtbar machen. Ihre Ergebnisse zeigen sie in der Plakat-Ausstellung „Das Virus bedroht alle UNGLEICH. Erfahrungen mit Corona im Mikrokosmos der Universität Tübingen“, die von Anfang Juli bis Ende August in der Universitätsbibliothek Tübingen zu sehen war.

Wissenschaftler*innen des SFB führten eine Reihe offener Interviews mit Angehörigen der Universität, also etwa Studierenden, Lehrenden, Putzkräften oder Verwaltungsangestellten. Sie fragten die Interviewten nach ihrem Jahr 2020, was für sie gut oder schlecht war, was für sie wichtig wurde. Sie fragten aber auch nach ihren Zeiterfahrungen, ihren Privilegien und ihren Ängsten, Träumen und Wünschen. Im Mikrokosmos "Uni-Tal" möchten die Wissenschaftler*innen damit der Vielfalt an Erfahrungen mit Bedrohter Ordnung nachspüren. In der Plakat-Ausstellung präsentieren die Kurator*innen Ausschnitte aus diesen Interviews, die sich in neun Themenblöcke gliedern:

ÄNGSTE | ARBEIT | NACHRICHTEN | ZEIT & ROUTINEN
SOLIDARITÄT | NÄHE | NEUE KOMMUNIKATIONSMEDIEN | DISTANZ

Ein besonderer Dank gilt allen Interviewpartner*innen – für ihre Zeit, Offenheit und Gedanken. Für die Kurator*innen waren die Gespräche nicht nur unterhaltsam und berührend; in ihrer Verschiedenheit haben sie en Wissenschaftler*innen auch neue Perspektiven auf die Pandemie, ihre persönlichen Erfahrungen und ihre gesellschaftlichen Dimensionen eröffnet. Wir bedanken uns ebenso bei den Mitarbeiter*innen der Universitätsbibliothek für die Möglichkeit, die Plakatausstellung in Ihren Räumen zeigen zu können.

Gesamtverantwortung und Kuration:

Dr. Lisa Pilar Eberle, Prof. Dr. Astrid Franke

Weitere Kurator*innen:

Luka Babić, Johanna Göcke, Dr. Nicole Hirschfelder, Dr. Ferdinand Nyberg, Sophie Prasse und Max Rhiem

Gestaltung und Illustration:

Johanna Neubert, Berlin (http://www.johnnybookjacket.de/)

Wissenschaftskommunikation und Kontakt:

Thorsten Zachary, thorsten.zacharyspam prevention@uni-tuebingen.de

Das Virus und Wir

Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt sich der SFB mit vergangenen und gegenwärtigen Bedrohten Ordnungen, jedoch immer aus einer 'unbeteiligten' Beobachter*innenposition heraus. Mit Corona waren die etablierten Arbeitsroutinen des gesamten Verbundes hinfällig geworden. Die Arbeit musste im Homeoffice stattfinden, Bibliotheken, Schulen und Kindertagesstätten waren geschlossen, Arbeitsgruppen konnten sich nicht mehr zum gemeinsamen Nachdenken verabreden. Plötzlich war der Verbund selbst ein Teil einer Bedrohten Ordnunge. Auch die Kurator*innen erlebten auf unterschiedliche Weise ihr Jahr 2020. Hier erzählen sie, was Corona bisher für sie bedeutet hat und wie sie damit umgehen:


ÄNGSTE

Corona – das bedeutet vor allem Ungewissheit und Unsicherheit. Nicht nur das Virus ist neu und unbekannt; auch die Folgen der Pandemie und der Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung getroffen werden, waren und sind immer noch nicht abzusehen. Im Kontext dieser Ungewissheiten erfahren viele Menschen die Pandemie eben auch eine von Ängsten geprägte Zeit. Aber wovor genau haben Leute Angst?

ARBEIT

Von Kurzarbeit und Betriebsschließungen über steigende Beschäftigtenzahlen bei Onlinehändlern und Lieferdiensten zu Fragen der Digitalisierung, der Arbeit im Homeoffice und ihrer Vereinbarkeit mit Homeschooling – die Pandemie ließ kaum einen Arbeitsbereich unberührt. Wie verändert Corona den Arbeitsalltag?

NACHRICHTEN

Im Kontext von Corona sind Menschen über die Medien mit einem nicht enden wollenden Strom von Informationen konfrontiert. Wie funktioniert das Virus? Wie sieht das aktuelle Infektionsgeschehen aus? Und wie können wir uns vor einer Infektion schützen? Gleichzeitig ändern sich die Antworten auf diese Fragen von Tag zu Tag und unterschieden sich von Land zu Land. Wie erleben Menschen diese Berichterstattung? Wie gehen sie damit um und welche Schlüsse ziehen sie daraus?

ZEIT & ROUTINEN

Was passiert mit der Zeit im Lockdown? Bleibt sie stehen? Rennt sie einem davon? Oder löst sie sich einfach auf? Unser Zeitempfinden hängt stark von unseren Routinen ab – werden sie in Frage gestellt, verändert sich unser Zeitempfinden. Für manche mag das eine Entschleunigung bedeuten, für andere ist für nichts mehr so richtig Zeit.

SOLIDARITÄT

Solidarisches Handeln und Verhalten gilt vielen Menschen zur Bewältigung der Corona-Pandemie als unverzichtbar. Politiker*innen, Ärzt*innen und viele andere fordern Solidarität von jedem Individuum und auch von der Geslelschaft als Ganzes. Aber was heißt es denn in spezifischen Situationen, sich solidarisch zu verhalten?

NÄHE

Die verordneten Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass viele unserer Interviewpartner*innen ihre sozialen Kontakte und Aktivitäten neu evaluieren und verlagern mussten. Welche Beziehungen werden jetzt wichtig und wie pflegt man sie?

NEUE KOMMUNIKATIONSMEDIEN

Zoom, Jitsi, Webex, DFN – diese Kommunikationsplattformen waren vor einem Jahr noch den wenigsten ein Begriff. Heute gehören sie für viele Menschen zu ihrem Alltag. Wie haben diese Plattformen das Miteinander verändert? Im Privatleben und im Arbeitsalltag/Studium? Und was von diesen Veränderungen wird und soll nach Corona bleiben?

DISTANZ

AHA: Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen – so lautete die Faustformel des Infektionsschutzes. Es ist dementsprechend nicht verwunderlich, dass wiederkehrende Motive unserer Interviews fragen nach Einsamkeit und Geselligkeit, Selbstschutz und Solidarität waren. Dabei zeigte sich deutlich das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach menschlicher Nähe und dem Verlangen, durch Abstand sich selbst und andere vor einer Infektion zu schützen. Abstand halten ist aber gar nicht so einfach: Von wem halten wir Abstand und um welchen Preis?