Uni-Tübingen

Stress im weiblichen Gehirn

Geschlechtshormone beeinflussen Stressreaktionen im Gehirn, bis hin zu psychischen Erkrankungen und deren Behandlung. Was Frauen betrifft, hat die Medizin hier Nachholbedarf: Viele Medikamente und Therapien orientieren sich am männlichen Standardmodell.

„2106“. Lydia Kogler nennt mir eine vierstellige Zahl. „Und nun in 17-er-Schritten rückwärts zählen.“ Oje! Im Kopfrechnen bin ich gar nicht gut. Wozu gibt es Taschenrechner? Schon der erste Versuch geht schief. „Falsch!“, kommentiert Kogler streng. „Wieder von vorn! 2106.“

Keine Frage, es ist Stress pur, was die Tübinger Psychologin Dr. Lydia Kogler ihren Versuchspersonen zumutet. Erst recht, wenn man bedenkt, dass sie die Kopfrechenübung nicht wie ich am Tisch sitzend, sondern im Scanner liegend absolvieren müssen: Während sie rechnen, wird mittels Magnetresonanztomografie (MRT) ihr Gehirn aufgezeichnet. Bewegen ist strengstens verboten.

Ein weiterer Test, den man im Scanner absolvieren kann, klingt netter: Cyberball. Es geht darum, mit imaginären Partnern am Bildschirm ein Ballspiel zu spielen. Dumm nur, wenn die imaginären Partner die Versuchsperson dabei vor den Kopf stoßen und aus dem Spiel ausschließen: sozialer Stress! Lydia Kogler weiß aus Versuchsreihen, die sie durchführte – in Wien, Aachen, Philadelphia (USA), Tübingen –, dass Frauen im Vergleich zu Männern stärker auf solchen Stress reagieren, wie sich beispielsweise in Netzwerken im Hirn zeigt. „Frauen leiden stärker unter sozialem Ausschluss als Männer“, erklärt sie.

Geschlechtshormone und Stress

Warum ist es wichtig, so etwas zu wissen? Kogler und ihre Kollegin Dr. Ann-Christin Kimmig erklären es mir: Stress ist ein Überbegriff für ein Phänomen, das viele Ebenen berührt. Er wird subjektiv empfunden (oder auch nicht). Er äußert sich physiologisch, etwa durch Schwitzen oder einen beschleunigten Puls. Das Gehirn ist beteiligt, es kann den Stress regulieren. Und nicht zuletzt wirken Hormone, das „Stresshormon“ Kortisol natürlich, aber auch die Geschlechtshormone von Männern und Frauen. Emotionen spielen eine Rolle, etwa die Angst vor Versagen. Oder soziale Interaktionen – eine strenge Bewertung oder eine sanfte Berührung, die beruhigend wirken kann.

„Eine gesunde Stressreaktion kann sehr positiv sein“, betont Kimmig. „Sie ist relevant für den Erfolg im Leben, kann  motivieren und antreiben.“ Schlecht dagegen sei dauerhafter Stress, etwa wenn es keine Pausen zur Erholung gibt. Dauerhafter Stress kann zu psychischen Störungen wie Depressionen führen, die bei Frauen verbreiteter sind als bei Männern. „Von der Pubertät an ist über die gesamte Lebensphase hinweg die Prävalenz von Depressionen bei Frauen höher als bei Männern“, weiß Kogler.

Dass dabei Geschlechtshormone eine Rolle spielen können, erläutert Kimmig an den Nebenwirkungen der Anti-Baby-Pille: Die künstlichen Hormone können bei manchen Frauen Stimmungsschwankungen und regelrechte depressive Symptome auslösen. Bei anderen wiederum dämpft die Pille Stimmungsschwankungen, die im Verlauf des Menstruationszyklus auftreten und als „prämenstruelles Syndrom“ bekannt sind. Die Auswirkungen  sind also sehr individuell.

Andere vulnerable Phasen für die mentale Gesundheit einer Frau sind die Geburt eines Kindes oder die Menopause. Auslöser kann dabei der schnelle Abfall eines zuvor hohen Hormonspiegels sein. Neben biologischen Faktoren gibt es allerdings auch sozial bedingte Stressoren und Erwartungen, denen Frauen im Alltag häufig stärker ausgesetzt sind als Männer, etwa eine stärkere Doppelbelastung durch Beruf und Kinder. Lydia Kogler, Mutter von drei kleinen Kindern, kann das bestätigen.

Aufwendige Versuche

Seit den 1990er-Jahren weiß man in der Psychologie und in der Hirnforschung, dass es beim Stress und der Stressverarbeitung Geschlechtsunterschiede gibt. Inzwischen sind auch, vor allem aus Tierversuchen, Details über das Zusammenwirken von Stresshormonen, Geschlechtshormonen, deren Rezeptoren und ihren Wirkungen auf das Nervensystem bekannt. Dank bildgebender Verfahren wie der funktionellen Kernspintomografie kann man sogar recht genau entschlüsseln, welche Netzwerke im Gehirn an der Stressreaktion beteiligt sind und die Unterschiede im Gehirn lokalisieren.

Darauf zielen die von Lydia Kogler konzipierten Experimente mit dem Hirnscanner ab. Gerade hat die Tübinger Doktorandin Zoé Bürger die Daten aus einem Versuch mit 77 gesunden Versuchspersonen, darunter 40 Frauen, ausgewertet und dabei Netzwerke im Hirn analysiert. Die Arbeit, an der noch weitere internationale WissenschaftlerInnen beteiligt waren, erschien 2023. „Stressor-spezifische Geschlechtsunterschiede im Netzwerk der Amygdala und dem Frontalkortex“ lautet die deutsche Übersetzung des Titels.

Es ist aufwendige Forschung, die viel Zeit und Geld verschlingt. Um eine ordentliche Statistik zu bekommen, müssen viele Versuchspersonen beiderlei Geschlechts rekrutiert werden. Die eigentlichen Experimente können sich über den ganzen Tag hinziehen, neben dem Hirnscanner werden auch Fragebögen, physiologische Messungen und Blutuntersuchungen eingesetzt. Große Datenmengen werden generiert und erst nach und nach ausgewertet.


Unter den rund 50.000 wissenschaftlichen Arbeiten zur Hirnforschung, die seit 1995 erschienen sind, beschäftigen sich gerade 0,5 Prozent mit der psychischen Gesundheit von Frauen.


Über den Weltraum weiß man mehr

Zum Glück für Forscherinnen, die sich wie Kogler, Kimmig und Bürger für Geschlechtsunterschiede im Gehirn interessieren, gibt es in Tübingen eine Professorin, die es immer wieder schafft, große Forschungsvorhaben und die notwendige Finanzierung dafür an die Uni zu holen: die Österreicherin Birgit Derntl, seit 2015 in Tübingen, leitet die Abteilung „Psychische Gesundheit und Gehirnfunktion von Frauen“ an der medizinischen Fakultät, und seit Januar 2023 überdies das internationale Graduiertenkolleg 2804 der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Psychischen Gesundheit von Frauen in der reproduktiven Lebensphase. Kogler, die 2015 zusammen mit Derntl nach Tübingen wechselte, ist ihre Stellvertreterin.

Ihr persönliches Ziel ist es nicht nur zu forschen. Sie möchte auch als Psychologin eingreifen und etwa Patientinnen und  Patienten helfen, Stress besser zu managen, um das Gehirn zu schützen. Als Forscherin aber ist sie derzeit ausgelastet. Gerade wurde in der Psychiatrischen Universitätsklinik ein neuer Hirnscanner installiert, der vor allem für Forschung genutzt werden darf. Die ist ihr wichtig, denn es gibt viel nachzuholen.

Eine Vorreiterin für die Arbeitsgruppe von Birgit Derntl ist die amerikanische Psychologin Emily G. Jacobs von der Universität in Santa Barbara, Kalifornien. Sie hat ausgerechnet, dass unter den rund 50.000 wissenschaftlichen Arbeiten zur Hirnforschung, die seit 1995 erschienen sind, sich gerade 0,5 Prozent mit der psychischen Gesundheit von Frauen beschäftigen. In einem aufrüttelnden Video, das für die von ihr geleitete Initiative Ann S. Bowers Women’s Brain Health wirbt, zeigt sie auf, über welche Gebiete die Menschheit mehr weiß als über das Frauengehirn: den Meeresboden, Dinosaurier, Glatzenbildung beim Mann, erektile Dysfunktion, den Weltraum…

Standardmodell „Mann“

Viel zu lange habe sich die Medizin auf den Mann als Standardmodell der Forschung konzentriert, beklagt auch Ann-Christin Kimmig. „Bis in die 1990er-Jahre wurden Medikamente fast ausschließlich an Männern und männlichen Versuchstieren getestet und auch heute noch gibt es ein Ungleichgewicht bei vielen Medikamenten.“ Das sei zum Teil erklärbar, Frauen seien aufgrund der hormonellen Schwankungen, denen ihr Körper ausgesetzt sei, komplizierter als Männer. Aber die Vernachlässigung des weiblichen Geschlechts in der Forschung habe Folgen. „Medikamente funktionieren bei Männern und Frauen nicht gleich. Frauen haben öfter unerwünschte Nebenwirkungen und auch die Wirksamkeit der Medikamente ist tendenziell geringer.“

Sogar die gerade in den USA neu zugelassenen Alzheimer-Medikamente wirken bei Frauen schlechter als bei Männern, wie man schon weiß. Dabei sind Frauen statistisch gesehen von der Alzheimer-Krankheit stärker bedroht, ähnlich wie bei Depressionen. Das liegt nicht nur daran, dass Frauen im Durchschnitt älter werden als Männer, sondern wohl auch an ihren Hormonen – unter anderem scheint die Menopause ein Risikofaktor zu sein. Bis zu einer wirklich geschlechtergerechten Medizin und Versorgung ist es also noch ein weiter Weg.

Text: Judith Rauch


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